Dienstag, 4. Oktober 2011

1. Kapitel Teil 8 - Eine schlaflose Nacht

So saßen die Beiden nun also unter einem Baum, am Rand der Lichtung, betrachteten von dort aus das Treiben um das Feuer und wussten nicht so recht, wie sie die Geschehnisse des heutigen Tages deuten sollten. Auch Melton wusste keinen Rat auf die wenigen Gesprächsfetzen und Antworten, die sein Bruder erhalten hatte.
Irgendwann gingen die ersten Schausteller zu Bett. Das Feuer brannte nur noch niedrig und es hatte sich ein großer, rot glühender Kreis gebildet. Die Lichtung wurde davon jetzt nur noch spärlich beleuchtet. Noch immer saßen die beiden Jungen alleine an ihrem Platz. Jeder hing seinen Gedanken nach und auch Melton gähnte bald vor Müdigkeit. Kurze Zeit später betrat auch schon ihre Mutter den Platz vor der Feuerstelle. Suchend sah sie sich um, und rief dann: „Melton, Syrill! Schlafenszeit!“
Nachdem die zwei Brüder der Aufforderung nachgekommen waren, fragte Melton: „Wo ist denn das Kräutermütterchen nun untergebracht?“
Helmine berichtete ihren Kindern darauf, dass die allein stehende Köchin Milla sie erst mal für diese Nacht bei sich im Wagen schlafen lassen würde.
Seit vor etwa einem halben Jahr im Winter, Millas Mann nach einer schweren Krankheit sein Ende gefunden hatte, hatte sie noch etwas Platz übrig. Normalerweise wurden alle Wagen bis auf das letzte bisschen Platz belegt und die Schausteller bewohnten meist zu mehreren einen der großen und teuren Wagen. Neben der Unterkunft von Milla gab es derzeit nur einen weiteren Wagen, der ganz allein bewohnt wurde. Dem exzentrischen Zauberer Xarabos war dieser Luxus vergönnt. Er genoss offenscheinlich diese Sonderstellung und hielt dies für eine Respektsbekundung, die ihm in seinen Augen auch zustand. Doch in Wahrheit wollte niemand seinen Wagen teilen, da er von den Meisten als unausstehlich empfunden wurde. Nur wenige kamen leidlich gut mit ihm aus, doch seine Zauberkunststücke waren jedes Mal ein Höhepunkt ihrer Vorstellungen. Wenn er vor den Augen des überraschten Publikums Tauben und andere kleine Tiere aus scheinbar leeren Kisten hervorzog und diese später in gleißend hellen Blitzen verschwanden, waren immer begeisterte „Oohs“ und „Aahs“ zu vernehmen. Obwohl er eigentlich Kinder hasste, glühten deren Wangen stets am Meisten.
Es dauerte nicht mehr lange, da lagen auch Syrill und Melton unter ihren Decken im Wagen. Hastor und Helmine hatten keine Widerrede geduldet und alle Fragen auf ein anderes Mal vertröstet. Das Licht verlöschend, waren die Eltern anschließend selbst zu Bett gegangen.
Der Raum innerhalb des Wagens wurde versucht bestens auszunutzen. So schliefen die beiden Brüder direkt Kopf an Kopf auf dem Boden des Wagens, wo jeden Abend mit Decken und einer weichen Unterlage eine Schlafstätte hergerichtet wurde. Nur die Eltern hatten eine feste Koje am Ende des Wagens. Doch auch diese wurde tagsüber anderweitig genutzt. Man konnte einfach ein Brett herunter klappen, wodurch die Koje sehr schnell und einfach zu einem Arbeitstisch umfunktioniert wurde. Hier führte Hastor seine Bücher oder schneiderte Helmine neue Kostüme für die Vorstellungen.
In dieser Nacht lag Syrill noch sehr lange wach. Als er schon längst laute Schnarchgeräusche von seinen Eltern vernehmen konnte, wälzte er sich noch immer von einer Seite auf die andere und fand keinen Schlaf. Er versuchte seinen rastlosen Geist zu beruhigen, indem er sich immer wieder einredete, dass er ja bald alle Antworten erhalten würde, deren Fragen ihn so sehr beschäftigten, doch es nutzte nichts.
„Melton, bist du wach?“, fragte er schließlich flüsternd seinen Bruder. Doch von diesem kamen nur tiefe, entspannte Atemseufzer. Enttäuscht drehte sich Syrill auf den Rücken und starrte die dunkle Decke an. Er wusste nicht, wie lange er jetzt schon keinen Schlaf gefunden hatte, aber schließlich entschied er sich aufzustehen. Vielleicht würde ihn die kühle Nachtluft etwas ermüden und seine Gedanken sortieren. Er verstand nicht, warum nur er so aufgekratzt war, während sein Bruder scheinbar selig schlief.
So vorsichtig und leise, wie es der beengte Wagen zuließ, schälte er sich aus seiner Decke und krabbelte zur Wagentür. Zaghaft öffnete er den Riegel und drückte die Tür einen Spalt breit auf, so dass er sich gerade hindurch quetschen konnte.
Auf der anderen Seite empfing ihn fahles Mondlicht und kühle Frische. Nachdem er die Tür wieder leise angelehnt hatte, atmete Syrill erst einmal tief durch. Die Luft hier im Wald und so nah an dem breiten Bach war feucht und hatte ein ganz eigenes Aroma. Er roch Moos und andere Pflanzen. Syrill war zuvor noch nie aufgefallen, was für einen Duft solch ein Wald bei Nacht verströmte. Langsam ging er ein paar Schritte in Richtung des längst erloschenen Feuers. Noch immer glühten dort einzelne Stellen vor sich hin. Er setzte sich auf ein einzelnes großes Holzscheit, das am Vorabend nicht mehr den Weg in die Flammen gefunden hatte und genoss die ruhige Atmosphäre, die die Natur um ihn herum gerade schuf. Tatsächlich konnte er hier endlich etwas abschalten.
Syrill lauschte neugierig den unterschiedlichen Geräuschen, die der Wald für ihn bereit hielt und war erstaunt, wie lebendig auch um diese Zeit alles war, wenn man sich nur die Mühe gab und genau hinhörte. Er wusste nicht weshalb, aber auf einmal konnte er ein tiefes Gefühl der Erhabenheit spüren. Seine Finger begannen zu kribbeln und seine Nackenhaare schienen sich sogar leicht aufzustellen – so intensiv war das Empfinden.
Ein paar Momente genoss er dieses ungewohnte Gefühl, doch dann spürte Syrill eine leichte Veränderung. Er war sich sicher, nicht mehr allein auf der Lichtung zu sein. Irritiert und auch etwas beängstigt drehte er sich um. Tatsächlich, ein paar Meter hinter ihm konnte er eine dunkle Gestalt ausmachen.
„Dareck, bist du das?“, fragte der Junge etwas schüchtern. Erleichtert erkannte er, dass es tatsächlich der finstere Messerwerfer war, als dieser näher auf ihn zutrat.
„Was machst du so spät hier draußen, Syl? Ein Junge in deinem Alter gehört um diese Zeit ins Bett.“, begrüßte der hagere Mann den verloren wirkenden Jungen, als er sich neben ihn, auf ein weiteres Holzscheit setzte. „Was ist los? Kannst du nicht schlafen?“
Syrill nickte. Dann fragte er: „Und was treibt dich um diese Zeit noch hier draußen um?“
„Na was wohl? Irgendjemand muss ja auf unsere Pferde achten. Schließlich sollen die über Nacht keine Jungen bekommen.“
„Was machst du dann hier? Die Pferde sind doch in der Nähe des Baches eingezäunt.“, entgegnete Syrill schnippisch.
„Ganz einfach, ich bin noch nicht dran. Chester hat gerade noch Schicht und ich bin, wie immer schon etwas früher wach.“
Chester und sein Bruder Willy waren beide für die Belustigung des Publikums zuständig. Jeder maß für sich allein gerade mal drei Fuß und ihre Späße sorgten für etliche Lacher während den Vorstellungen.
„Bin gespannt, ob ich ihn mal wieder beim Schlafen erwische? Wäre nicht das erste Mal.“
Die Wachschichten wurden von manchen während den Überlandreisen etwas lax gehandhabt. Besonders, wenn das bereiste Gebiet als sicher galt. Weder Räuber, noch irgendwelche gefährlichen Raubtiere trieben hier angeblich ihr Unwesen. Das umliegende Gebiet galt als befriedet und für Reisende als ungefährlich. Nur die umherziehenden Steuereintreiber und Wegzollposten waren als das größte Übel zu fürchten, so sagte man. Doch das war der Preis für sichere Straßen und gefahrloses Reisen.
„Komm, wir schauen mal nach und machen uns einen Spaß, wenn wir ihn schnarchend finden.“ Dareck erhob sich. „Hast du schon mal einen schlafenden, abgebrochenen Riesen nach einem kurzen Flug, prustend in einem kalten Bach erwachen sehen? Das solltest du dir nicht entgehen lassen.“
Syrill musste nun tatsächlich grinsen, bei dieser Vorstellung.
"Also gut.", antwortete der Junge und stand ebenfalls auf. Vorsichtig folgte er Dareck in Richtung Bach, wo sich irgendwo Chester in der Nähe der Pferde befinden musste.
Wenn die Gruppe in einem Wald nächtigte, suchten sie sich normalerweise eine geeignete Stelle in unmittelbarer Nähe der Wagen und banden dort eine Art grobes Netz um eine größere Gruppe Bäume. Die Tiere konnten sich dann dort drinnen frei bewegen und es genügte eine Wache zum Lärm schlagen, falls doch etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte.
Dareck bewegte sich geschickt, ohne auch nur den geringsten Laut zu verursachen und Syrill versuchte es ihm gleich zu tun. Er war froh, über das helle Mondlicht und die sternklare Nacht. Ein gewisses Gefühl der Spannung ergriff ihn und der Junge fragte sich, ob sie den kleinwüchsigen Chester wirklich schlafend antreffen würden.
Als sie sich dem Bach so weit genähert hatten, dass sie bereits sein sanftes Rauschen hören konnten, hielt Dareck plötzlich inne.
„Hörst du das?“ zischte er zu Syrill.
Syrill lauschte, doch konnte er außer dem Schnauben und vereinzeltem Gewieher der Pferde nichts vernehmen.
„Nein, was meinst du?“ Angestrengt versuchte der Junge noch etwas anderes aus dem stillen Wald zu hören. Doch Dareck stand wie versteinert mit erhobener linker Hand da, um dem Jungen Ruhe zu gebieten.
„Du bleibst hier und bewegst dich nicht vom Fleck! Ich bin mir nicht sicher und möchte niemanden vorschnell wecken.“ Sagte es und verschwand zwischen den Bäumen.
Syrill wollte noch nachhaken, worüber er sich nicht sicher war, doch da war der Messerwerfer schon längst im Dunkel des Waldes abgetaucht. Hier, zwischen den ersten Bäumen, wo die Sichel des Mondes ihr Licht nicht mehr so ungehindert verbreiten konnte, fühlte sich Syrill nun reichlich unwohl.
Noch immer versuchte der Junge zu ergründen, was Dareck so bedachtsam hatte werden lassen.
Er konnte noch immer nur die Pferde vernehmen... die um diese Zeit eigentlich nicht so unruhig sein sollten. Das war es! Auch Dareck war nur auf die Pferde aufmerksam geworden, doch schien die irgendetwas in Aufruhr versetzt zu haben. Weiterhin hatten die Pferde Syrill vom eigentlich zu stillen Wald abgelenkt. Es war zwar nicht dieselbe beunruhigende Atmosphäre wie noch zu Mittag des Tages, doch der Wald war auf einmal eindeutig zu ruhig.
Sich an den Stamm eines Baumes pressend, als ob dieser ihm Sicherheit geben könnte, verharrte der Junge und wartete besorgt ab. Er überlegte, ob er alle Anweisungen missachten und sofort die übrige Gruppe aufwecken sollte, doch noch während er über eine Entscheidung nachdachte, sah er bereits wieder Darecks Silhouette zwischen den Bäumen an ihm vorbei huschen. Der Messerwerfer schien sich noch immer umzusehen – aber wieso bewegte er sich nun auf die Wagen zu? Hatte er etwas entdeckt? Syrill hielt den Atem an. Dareck schien genau am Rand der Lichtung zu verharren und das Lager zu beobachten.
Auf allen Vieren robbte der Junge nun langsam und lautlos ebenfalls zum Rand des Waldes, als sich die Gestalt die dort stand, plötzlich umdrehte.
Syrill blieb fast das Herz stehen. Er konnte ganz schwach zwei rot leuchtende Punkte, an Stelle der Augen ausmachen. Auch konnte er nun gegen das fahle Licht der Waldlichtung erkennen, dass die Gestalt einen Mantel trug, mit einer Kapuze tief im Gesicht. Alles andere lag im Schatten.

Den nächsten Teil findet Ihr am Samstag wieder hier.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen