Samstag, 17. September 2011

1. Kapitel Teil 3 - Olinga

Vor ihnen stand eine alte Frau in schäbigen Gewändern. Sie war nicht sonderlich groß und hatte einen unübersehbaren Buckel. Ihr graues Haar hing ihr in zotteligen Strähnen ins Gesicht, aus dem eine große spitze Nase hervorstach. Ihr kleiner Mund war zu einem belustigten Grinsen verzogen und ihre klaren, blauen Augen wirkten überraschender Weise recht freundlich.
„Was ist los Kinderchen, hat es euch die Sprache verschlagen? Oder habt Ihr vor Schreck eure Zungen verschluckt?“ Sie kicherte wieder heiser in sich hinein. „Nun schaut mich nicht an wie eine Kuh, wenn’s donnert. Nicht alle buckligen Mütterchen, essen gern so kleine appetitliche Happen, wie ihr es seid. Was sucht Ihr also hier, so allein im Wald?“
„Äh, da war ein Mann.“, platzte es aus Melton. „Da vorne zwischen den Bäumen.“
„Ein Mann, so, so. Und dem seid ihr nachgegangen?“
„Nein, wir sind doch vor dem Keiler geflohen.“ Melton war irritiert. Hatte sie den Mann denn nicht gesehen?
Syrill stieß seinen Bruder in die Seite. Ihm war die Alte nicht geheuer und er war sich nicht sicher, ob sie dieser Person, die nicht minder ungewöhnlich wirkte, als die restlichen Ereignisse des Tages, sofort vertrauen sollten.
Daher ergriff er nun das Wort: „Auf jeden Fall, sind wir eigentlich gerade auf dem Weg zu unseren Eltern. Wenn wir uns nun also wieder auf den Weg machen dürften, wären wir Euch sehr verbunden.“
„Wo sollen die denn sein? Ich kenne alle umliegenden Höfe, mit ihren Bewohnern. So viele sind das nicht, als dass zwei Jungen Mütterchen Olinga entgangen wären.“
„Kein Hof, die lagern in der Nähe auf einer Lichtung. Wir gehören zu einer fahrenden Schaustellertruppe. Und unsere Eltern leiten die sogar. Meister Hastors fahrendes Theater.“
Der Stolz in Meltons Stimme war nicht zu überhören. In Gedanken ganz bei den schillernden Kostümen und dem beliebten Programm, entging ihm völlig, wie sich Mütterchen Olingas Stirn, nachdenklich in Falten legte. Nur Syrill entging dies nicht.
Sie schien einen Moment zu überlegen, doch dann meinte sie: „Da ich nicht glaube, dass ihr den Weg zu Euren Eltern ohne Schwierigkeiten allein findet, wird es wohl das Beste sein, wenn ich Euch selbst dorthin bringe. Vorher werden wir aber noch bei meiner Hütte vorbeischauen, das ist nicht weit und dort könnt ihr euch auch waschen… Was ist das eigentlich, was Du da in den Haaren und deinem Gesicht hast?“
Mit diesen Worten griff die Alte nach Meltons Haar, das noch immer von dem roten Saft verklebt war. Erschrocken zuckte er kurz zurück, blieb dann aber tapfer stehen. Sie fuhr ihm mit ihren knöchernen Fingern und den langen, gelben Nägeln durch die Strähnen und roch dann ausgiebig daran.
„Ist das Rotwurzbeere?“
Syrill nickte, er hatte die prallen Beeren selbst gesammelt.
Kopfschüttelnd, aber kichernd drehte sich das Mütterchen mit dem Buckel um und ging ein paar Schritte davon. Als sie merkte, dass die zwei Jungen noch immer stehen blieben und keine Anstalten machten ihr zu folgen, wandte sie sich erneut zu ihnen.
„Was ist? Auf geht’s, ich möchte eigentlich nicht auf den Abend warten. Wenn wir nicht länger trödeln, seid ihr in kürzester Zeit wieder bei euren Eltern.“
Zögerlich setzten sich Syrill und Melton in Bewegung. Sie waren noch immer unsicher mit der Alten, doch ihre Art schien keinen Widerspruch zu dulden. Geduldig wartete sie, bis die beiden Brüder zu ihr aufgeschlossen hatten und führte sie dann neben sich durch den Wald.
Syrill sah sich immer wieder um, doch konnte er keinerlei Orientierungspunkte ausmachen. Jeder Baum schien dem vorherigen zu gleichen und jede kleine Schneise der zuvor. Er fragte sich, wie es dem Mütterchen gelang, sich hier zu Recht zu finden.
Während er so vor sich hin überlegte, fiel ihm plötzlich auf, dass die unheimliche Stille verschwunden war. Er konnte Vögel zwitschern hören und auch die Wipfel der Bäume bewegten sich wieder im Wind. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, wann dies geschehen war, doch es war ihm nichts im Gedächtnis geblieben, woran er einen Zeitpunkt hätte festmachen können. Er fragte sich, ob vielleicht Melton etwas bemerkt hatte und gerade wollte er seinen Bruder darauf ansprechen, als ihm die Alte zuvor kam.
„Oh, die Vögel singen wieder. Das ist schön. Hört ihr sie? Ich frage mich, was sie zum Verstummen brachte?“ Sie schien mehr mit sich selbst zu sprechen und keine wirkliche Antwort zu erwarten. Umso erstaunter war sie, als sie doch eine bekam.
„Das lag bestimmt an dem Mann, der aus dem Lichtkreis kam.“ Melton ging neben ihr und sagte das ganz beiläufig – so, als ob es überhaupt keine andere Erklärung dafür geben könne.
Irritiert blieb das alte Mütterchen stehen. „Was meinst du mit Lichtkreis und heraus kommen?“
Nun auch inne haltend, drehte sich Melton zu ihr um.
„Na vorhin, ich sagte doch, dass da ein Mann war. Syrill meinte zwar es wäre eine Frau gewesen, aber das glaube ich nicht.“
Syrill, der sich neben seinen Bruder stellte, beobachtete die Alte genau. Sie schien nun doch an der Geschichte der Beiden Interesse gefunden zu haben. Sehr sogar.
„Ja, ja, ich erinnere mich, dass du von einem Mann gesprochen hast, aber einen Lichtkreis hast du nicht erwähnt.“
„Na, da war vorhin so ein Blitzen zwischen den Bäumen. So was haben wir noch nie gesehen, nicht wahr Syl? Es sah aus, wie wenn man ein Feuerwerk abbrennt, aber es bewegte sich nicht, sondern war ganz starr an einer Stelle. Doch dann wurde es auf einmal größer und schließlich kam ein Mann daraus hervor. Er war zwar nicht richtig zu erkennen, wegen dem Mantel und so, aber ich bin mir ganz sicher, dass es ein Mann war.“
Melton hatte sich richtig in Erregung geredet. Seine Wangen glühten bei der Erinnerung an das zuvor Erlebte. Die dabei erlebte Unsicherheit und Angst waren selbst nach der kurzen Zeit wie weggewischt und es blieb nur noch der Gedanke, an ein aufregendes Abenteuer in ihm zurück.
Nicht so bei Syrill. Er erlebte nicht oft ein Gefühl der Beklemmung und sah sich normalerweise stets Herr der Lage. Umso tiefer saßen daher bei ihm das Geschehene und die dabei empfundenen unguten Gefühle. Er konnte nichts Faszinierendes mehr an dem gesehenen Lichtkreis empfinden, sondern es blieben nur noch das Unbehagen und die laut schrillenden Alarmglocken zurück. – Und das, was er in den Augen der Alten sah, vertiefte das Gefühl mit seiner Vorsicht Recht zu haben.
Nachdenklich stand das Mütterchen da, in ihren Gedanken schien es sich zu überschlagen.
„Was ist dann geschehen? Habt ihr die Augen gesehen?“ Olingas Stimme war zu einem heiseren Flüstern geworden, als verspüre sie Scheu vor der möglichen Antwort.
„Er ging weg und schien es dabei sehr eilig zu haben. Und wie gesagt lag sein Gesicht im Schatten der Kapuze. Wie hätten wir da denn Augen sehen sollen, wenn wir doch nicht mal erkannten, ob es ein Mann oder eine Frau war?“ Melton schüttelte den Kopf über diese für ihn eindeutig absurde Frage.
„Wohin, nehm’ ich an, könnt ihr mir auch nicht sagen? Nein, lasst gut sein, ich weiß, wir sind im Wald und jede Richtung muss für Euch hier gleich sein. Wir sollten uns wohl etwas sputen, auf unserem Weg.“
‚Auf welchem Weg?’, fragte sich Syrill, doch folgte er diesmal ohne Umschweife, als sie zügigen Schrittes vorauseilte. Der Wald wirkte kurze Zeit später wieder etwas freundlicher, was mit daran lag, dass hier die Stämme nicht so nah beieinander standen und durch die sonst dichten Baumkronen mehr Licht drang. Ebenso gab es hier weniger Büsche oder andere natürliche Hindernisse, die ihren Weg zuvor noch erschwert hatten. Doch trotz alledem vermittelte der Wald noch immer ein Gefühl der Macht und Erhabenheit. Diesem Bereich hier schien eine gewisse eigentümliche Energie inne zu wohnen. Ja, Syrill hatte sogar fast den Eindruck, ein richtiges Kribbeln in seinem Nacken zu verspüren.
Melton wiederum schien davon nichts zu bemerken. Er verspürte eher eine leichte Beschwingtheit, die er sich selbst nicht richtig erklären konnte. Vielleicht lag dies daran, dass sein Bruder einmal nicht im Vordergrund stand, sondern sich bei Meltons Erzählung zurück gehalten hatte und so das alte Mütterchen alle Antworten von ihm erhielt. In der Zwischenzeit mochte er sie sogar fast schon ein wenig. Ihre Augen strahlten eine gewisse Mischung von Weisheit und Wissen aus, das spürte er. Auch eine Vertrautheit hatte er in ihnen entdeckt, die ihm die vorherige Scheu nahm, selbst wenn sie auf den ersten Blick, wie eine typische Hexe aus den Lagerfeuergeschichten wirkte. – Und er hatte vielen von diesen Geschichten gelauscht.
Wie alle so in ihre Gedanken vertieft waren, entging ihnen völlig ein leichtes Flackern zwischen den Bäumen. Es war noch ein gutes Stück entfernt, doch schien es direkt auf ihrem Weg zu liegen. Wenige Schritte später hatte Syrill es entdeckt: „Was ist das da vorn? Sieht aus wie ein Feuer.“
Syrill zeigte mit ausgestrecktem Arm direkt auf das Flackern. Seinem Blick nun folgend, konnten auch Melton und Olinga die Flammen erkennen.
Entsetzt stammelte das Mütterchen: „Das… das ist meine Hütte. Meine Häuschen brennt!“

Der nächste Teil folgt wie üblich am Mittwoch.

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