Freitag, 30. September 2011

1. Kapitel Teil 7 - Wenige Antworten, viele Fragen

Zügig bewegten sich die zwei Brüder zwischen den Wagen hindurch. Dabei versuchten sie sich, so natürlich wie es nur ging zu verhalten. Schließlich wollten sie sich nur ungern, beim Belauschen ihrer eigenen Eltern ertappen lassen. Am Wagen angekommen, krochen sie sogleich zwischen den Rädern hindurch, unter dessen Boden. Hier kauerten sie sich erst einmal nieder und warteten ab. Als sie sich sicher waren, nicht gesehen worden zu sein, bewegten sie sich etwas freier im Schatten, den der Wagen ihnen bot.
Beide drückten ihr Ohr, so gut es ging, an die Holzunterseite des Wagens.
„Kannst du was verstehen?“, flüsterte Melton seinem Bruder, so leise wie möglich zu. Er selbst hörte nur schwaches Gemurmel durch das Holz hindurch. Syrill schüttelte unmerklich den Kopf, ihm erging es nicht besser.
„Wir brauchen etwas wie einen Becher.“, schlug Melton vor. Dareck hatte ihm einmal gezeigt, wie man durch einen dünnen Metallbecher viel besser hören konnte, was hinter einer Tür oder Wand vor sich ging.
„Woher sollen wir jetzt einen Becher nehmen? Ich hab keinen einstecken.“, zischte Syrill daraufhin bissig hinüber.
„Bleib hier und warte. Ich bin gleich zurück.“
„Was? Wohin willst Du denn…?“, doch Melton war schon unter dem Wagen hervor und verschwunden.
Kopfschüttelnd blieb Syrill zurück. Manchmal hatte sein Bruder solch spontane Einfälle, denen er dann auch sofort, ohne genauer darüber nachzudenken, nachgab.
‚Na ja, mal schauen, ob diesmal etwas Brauchbares bei raus kommt.’, dachte sich Syrill und suchte weiter den Boden, nach einer etwas hellhörigeren Stelle ab.
Plötzlich fand er was er suchte. – Durch ein Astloch hindurch konnte er deutlich die Stimme seines Vaters vernehmen. Das Gespräch schien sehr emotional. Syrill konnte zwar nur die Stimme seines Vaters verstehen, doch diese klang hart und energisch. Nur selten hatte Syrill seinen Vater, abseits der Bühne, so reden hören.
„…aber wieso hier?“ … „Nur Zufall? Das müsste aber ein großer Zufall sein.“ … „Nein, wir haben nichts gemerkt.“ … „Sie sind beide sehr pfiffig. Jeder auf seine Art.“ … „Und ehrlich gesagt sind wir froh, dass wir nichts feststellen konnten.“ … „Pah! Lebensgefahr trifft es besser. Wir hatten es so schon schwer genug, in den letzten Jahren.“
Die Stimme verriet deutlich Besorgnis und Aufregung. Syrill konnte mit den ganzen Gesprächsfetzen nur wenig anfangen. Er wünschte sich, dass endlich Melton mit seinem Becher, oder was auch immer auftauchte. Das ganze Gespräch verunsicherte ihn sehr, denn er war sich ganz sicher, dass es dabei um ihn und Mel ging. Als er endlich Geräusche hinter sich vernahm, spürte er eine große Erleichterung.
„Das wird auch Zeit.“, raunte er, als er sich zu seinem Bruder umwand.
Doch nicht Melton konnte er hinter sich erkennen, sondern das feiste Gesicht von Xarabos, dem Scharlatan. Dieser stand vor dem Wagen und hatte sich zum besseren Sehen herunter gebeugt.
„Da lag ich ja doch richtig.“ Das Gesicht zeigte im schwachen Lampenschein, ein gemeines Grienen. „Was tust Du da? Mach, dass du da hervor kommst, kleine Mistkröte!“ Mit diesen Worten griff er behände nach Syrill und zog ihn an dessen Kragen rabiat aus seinem Versteck hervor.
„Au, du tust mir weh!“, entfuhr es laut dem erschrockenen Jungen.
„Ja, stell dich nur an. Das hilft Dir jetzt auch nicht.“, feixte der Zauberer und hielt ihn weiter fest.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich bereits die Tür des Wagens öffnete und Syrills Vater aus dieser hervor trat.
„Was ist hier los?“, verlangte er zu wissen. In seiner Stimme schwang noch immer dieser ungewöhnlich harte Klang mit. Als sein Blick auf Syrill und Xarabos fiel, schien ihm bereits zu dämmern, was vorgefallen war.
„Ich hab ihn beim Lauschen erwischt, deinen tollen Sohn. Immer nur am Spionieren die kleinen Kröten. Wenn ich du wäre, würde ich sie mal ordentlich übers Knie legen.“
Bei der Vorstellung dessen, konnte der dicke Zauberer erneut ein sadistisches Grinsen nicht unterdrücken.
„Ich bin aber nicht du. Lass ihn also los, Xarabos!“ Hastor winkte dabei seinen Sohn zu sich. Die Enttäuschung, dass der Junge wohl ohne Prügel davon kommen sollte, war deutlich in Xarabos Gesicht zu lesen. Nur widerwillig lockerte sich seine Hand an Syrills Kragen, doch genug, dass der sich endlich dem Griff entwinden konnte und schnell zu seinem Vater trat. Hastor sah dabei seinen Sohn streng an. Er wartete noch, bis sich der enttäuschte Zauberer grummelnd entfernt hatte und atmete dann tief durch.
„Wo ist dein Bruder, Syl? Du warst doch bestimmt nicht allein hier? Oder etwa doch?“
Sein Vater schaute sich kurz um, ob er vielleicht Melton hinter irgendeinem Wagen hervorlugen sah.
„Doch, war ich.“ log Syrill. Er wollte seinen Bruder nicht mit hineinziehen, was immer jetzt auch folgen mochte. Die Art, wie sein Vater sich im Moment verhielt, verdeutlichte ihm noch mehr, dass er bei etwas sehr Wichtigem zugehört hatte. Prüfend besah ihn sein Vater. Er schien Syrills Aussage, nicht ganz Glauben zu schenken, doch erwiderte er nichts darauf und richtete stattdessen seinen Blick wieder geradeaus. Schweigend standen Vater und Sohn vor dem Wagen, während sie die gegenüberliegende Wagenwand anstarrten. Keiner wollte anscheinend dem anderen in diesem Moment in die Augen blicken.
Syrill überlegte, was wohl gerade in seinem Vater vorging und was die alte Frau mit ihrem Erscheinen bei seinen Eltern ausgelöst haben mochte. Er entschied sich als Erster, das Schweigen zu brechen und wandte sich um.
„Vater, wer ist diese Olinga? Sind Mutter und du böse, dass wir sie mitgebracht haben?“ Syrills Stimme bebte bei diesen Fragen. Er wollte seine Eltern nicht enttäuschen. Natürlich verursachte er zusammen mit seinem Bruder, ständig Schwierigkeiten und auch Ärger, doch noch nie war er sich über das Ausmaß seiner Taten so unklar. Er hatte im Moment das Gefühl, einen wirklich großen Fehler begangen zu haben.
Sein Vater bemerkte dies. Auch er drehte sich nun seinem Sohn zu und antwortete: „Nein Syrill, du und dein Bruder, ihr habt nichts Falsches getan.“
Seine Stimme war nun sanft und verständnisvoll. „Olinga hierher zu bringen war genau das Richtige – zumindest nachdem, was sie deiner Mutter und mir erzählt hat.“
„Aber wer ist sie, Vater? Woher kennt ihr sie? Irgendetwas verheimlicht ihr uns doch.“, ließ Syrill nicht locker. Die Worte seines Vaters hatten ihm die Sorge und das ungute Gefühl noch nicht nehmen können.
„Nun Syrill, sie ist dafür verantwortlich, dass wir zwei gesunde Söhne haben. Ihr habt ihr es zu verdanken, dass ihr beide zusammen aufwachsen konntet.“
Diese Antwort rief für Syrill mehr Fragen hervor, als dass sie welche befriedigt hätte.
Hatte Olinga mit ihren Kräutern vielleicht ihm oder seinem Bruder einmal das Leben gerettet? Wann konnte dies geschehen sein, da er sich nicht an die Kräuterfrau erinnern konnte? Gerade wollte er eine dieser Fragen an seinen Vater richten, als er aus dem Wageninneren seine Mutter hören konnte: „Mann, was ist los? Bist du noch da?“
„Ich komme sofort Liebes!“, rief er mit lauter Stimme zurück. Dann leise an Syrill gerichtet: „Wir reden morgen über alles, ja? Ich muss jetzt erst mal sehen, wo wir Olinga für diese Nacht unterbringen.“
Dann drehte er sich um und schritt langsam die Stufen zur Wagentür hinauf. Oben blieb Hastor noch einmal stehen, drehte sich erneut zu seinem Sohn und sagte: „Mach dir keine Sorgen, es ist wirklich alles in Ordnung.“ Dann erst betrat er den Wagen.
Syrill stand fast so ratlos wie zuvor am Fuß der Wagentreppe. Tausend Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf, die er so im Moment kaum einordnen konnte. Er musste Melton finden und ihm berichten, was er gehört und erfahren hatte. Als er sich umschaute, konnte er seinen Bruder hinter einem Wagen hervor winken sehen.
Melton war genau rechtzeitig gekommen, um mit ansehen zu können, wie Xarabos seinen Bruder unter dem Wagen hervorzog. Daraufhin hatte er sich sogleich hinter einem der Wagen versteckt und von dort aus die ganze Szene beobachtet. Innerlich platzte Melton bereits fast vor Neugier, was sein Bruder erfahren haben mochte. Als dieser ihm jedoch alles erzählt hatte, erging es ihm nicht anders, als zuvor Syrill.

Weiter geht es am Mittwoch.

Dienstag, 27. September 2011

1. Kapitel Teil 6 - Abendessen

Syrill und Melton sahen nun ebenfalls fassungslos zu der alten Frau. In plötzlichem Verstehen, hatte Syrill auf einmal wieder die alte Frau vor Augen und ihren merkwürdigen Gesichtsausdruck, als Melton im Wald von der Wandertruppe ihres Vaters erzählte und dabei auch dessen Namen nannte.
Sie kannte ihre Eltern also – doch warum hatte sie das nicht erzählt? Auch verstand Syrill nicht, warum ihre Eltern gar so überrascht waren, als sie zusammen mit Olinga hierher kamen. Wussten sie denn nicht, dass hier in der Nähe ihre Hütte gestanden hatte? Der Tag war voller ungewöhnlicher Geschehnisse.
Von Hastor und seiner Frau Helmine schien so langsam, die Erstarrung abzufallen und ihre Gedankenwelt sich wieder zu beruhigen. Auf beiden Gesichtern zeigte sich nun, ein erfreutes Lächeln und die übliche Selbstsicherheit kehrte zurück.
„Olinga, was macht ihr denn hier? Auch uns freut es außerordentlich, euch wieder zu sehen. Entschuldigt unsere Überraschung, aber in dieser Gegend hätten wir am wenigsten mit euch gerechnet.“, begrüßte nun Helmine die alte Frau aufs Herzlichste. Auch Hastor trat hinzu und griff nach der hingehaltenen Hand des Mütterchens.
„Was hat euch denn zu uns verschlagen?“, fragte Syrills und Meltons Vater neugierig. „Und wo habt ihr unsere beiden Rabauken aufgetrieben? Das ist ja vielleicht ein Zufall.“
„Mann, wo sind Deine Manieren?“, fiel ihm da seine Frau ins Wort. „Wir haben gerade Essenszeit und natürlich seid ihr gerne eingeladen. Einer unserer Jäger hatte heute großes Glück und konnte ein Wildschwein erlegen. Danach ist noch immer genügend Zeit, uns eure Geschichte zu erzählen. Ihr bleibt doch ein wenig? Kinder, ihr geht euch erstmal fix waschen und du Melton ziehst dir etwas anderes über. Wie siehst du überhaupt wieder aus? Gerade heute war Waschtag.“
Kopfschüttelnd stand die beleibte Frau da, als sie ihren Kindern die üblichen Anweisungen gab, welche die Brüder schon längst kannten und auch erwarteten. Wie immer sprach sie, ohne Punkt und Komma und in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Sie war eine resolute Frau, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatte. Streng erzog sie ihre beiden Söhne, doch nie mit unnötiger Härte.
Meister Hastor, wie er sich selbst in der Öffentlichkeit gerne vorstellte, war da um ein vielfaches nachgiebiger. Seinen beiden Söhnen ließ er so manche Schelmerei durchgehen und sorgte auch dafür, dass seine Frau erst gar nicht von so manchen Vorfällen erfuhr. Oft sah er sich selbst in einem seiner beiden Jungen wieder, während seiner eigenen Kindheit. Auch wenn seine Frau des Öfteren über den Unfug der beiden schalt, musste er doch immer wieder schmunzeln.
So gingen die drei Erwachsenen also gemeinsam zum Lagerfeuer, während die beiden Jungen sich erst einmal in Richtung Bach begaben. Melton hatte sich noch schnell ein Leibchen aus ihrem Wagen geholt und nun wuschen sie sich ausgiebig, bevor sie wieder ihrer Mutter unterkommen wollten. Das Wasser war klar und angenehm kühl.
„Was denkst du? Warum hat sie uns nicht erzählt, dass sie Vater und Mutter kennt?“, fragte Syrill seinen Bruder.
Dieser tauchte gerade seinen ganzen Kopf unter die Wasseroberfläche, um den klebrigen Rest Saft aus seinem Haar zu waschen. Prustend kam er wieder hoch und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht war sie sich einfach nicht sicher, ob sie wirklich Vater und Mutter kennt.“ Erneut tauchte Melton seinen Kopf in das frische Nass. „Aber sie scheinen sich wirklich über das Treffen zu freuen.“, beendete er seinen Satz, als er wieder nach oben kam.
„Na, ich weiß nicht. Mir kamen sie zu Beginn mehr erschrocken vor. Besonders, wie sie dabei auch uns immer wieder ansahen. Irgendwas stimmt hier nicht.“, sprach Syrill darauf seine Beobachtungen und Mutmaßungen aus. „Aber jetzt komm schon. Du bist sauber genug.“
Schnell stapfte Melton daraufhin aus dem seichten Wasser und zog sein frisches Hemd über.
Sofort sog es sich an seiner nassen Haut fest. Danach beeilten sie sich, noch rechtzeitig zum Essen zu kommen.

Natürlich waren die besten Stücke schon weg, als sie ankamen, doch an den Rippen hing noch immer genug, sodass auch Melton und Syrill mehr als satt wurden. Bei den derzeitigen Sommertemperaturen hielt sich Fleisch nicht besonders lange, weshalb sich auch immer alle den Bauch voll schlugen, wenn es mal solch einen üppigen Braten gab. Niemand war besonders erpicht darauf, auch nur das geringste Bisschen den Fliegen, oder anderem Getier zu überlassen.
Melton fragte sich, während er so an einer Wildschweinrippe herumnagte, ob diese vielleicht von dem Eber stammte, der sie heute Nachmittag auf einen Baum gejagt hatte. Bei der Vorstellung dessen, stahl sich ein Grinsen auf seine Lippen und es schmeckte ihm noch mal so gut.
Syrill hing stattdessen mehr seinen Gedanken nach. Auch er aß, was er nur konnte, doch beobachtete er dabei seine Eltern und Olinga genauestens. Keines von den anderen Gruppenmitgliedern schien das Mütterchen zu kennen, zumindest machte niemand Anstalten, die darauf hingedeutet hätten.
Man sprach zwar mit ihr, wie es üblich war bei Gästen, doch Vertrautheiten konnte Syrill aus den meist kurzen Gesprächen nicht herausdeuten. Erschwert wurde dies jedoch auch durch den Platz, den die beiden Brüder einnehmen mussten. Als sie endlich vom Waschen zurück gekommen waren, saßen ihre Eltern bereits so, dass sie sich nur gegenüber, auf der anderen Seite des Feuers niederlassen konnten. Umso mehr versuchte Syrill genau zu verfolgen, worüber seine Eltern mit Olinga sprachen.
Mittlerweile war die Sonne vollständig hinter den Bäumen verschwunden und der Mond stand hell am Firmament. Es sollten nur noch wenige Nächte vergehen, bis er seine ganze Fülle erreichen würde. Die Lichtung und die Wagen waren außer von dessen silbernem Licht, noch vom Schein des Lagerfeuers und der diversen Öllampen erleuchtet, die an den Wagen hingen. Auf den Bäumen war ein gespenstisches Schattenspiel zu beobachten, als die ersten Vagabunden wieder ihre Instrumente ergriffen und ein paar der Übrigen, zur Musik um das Feuer herum tanzten.
„Na Jungs, wie hat euch mein Schwein geschmeckt?“
Marius, einer der Männer, die normalerweise bei längeren Aufenthalten in der Wildnis auf die Jagd gingen, hatte sich zwischen Syrill und Melton fallen gelassen. Er war ein großer, stämmiger und nicht gerade geistig sehr heller Mann. Er erfüllte so etliche Klischees, die immer wieder über Männer mit solch einer Statur kursierten. Bei der Gruppe war er eigentlich als „Aufbauer“ beschäftigt und sorgte zusätzlich für Ruhe, wenn es ab und an zu Ausschweifungen von betrunkenem Publikum oder zu anderen Störungen, während den Vorstellungen kam. Für diese war er nicht zu gebrauchen, weil er sich einfach keinen Text merken konnte und noch dazu des Lesens nicht mächtig war.
Doch heute hatte er das große Glück, dass ihm ein prächtiger Wildhauer direkt vor die Armbrust gelaufen war. Mehr aus Schreck, als aus Absicht, hatte er den Abzug betätigt und damit das große Tier auch noch sofort niedergestreckt. In seiner Version jedoch, die er nun jedem kundtat – egal ob dieser es hören wollte oder nicht – hatte sich dies alles natürlich ein klein wenig anders zugetragen.
„Es war ein zähes Biest, sag ich euch. Hab’s ein paar Mal heute vor dem Bolzen gehabt, doch hab ich immer auf den richtigen Moment gewartet. Als ich es dann endlich wissen wollte, ist es direkt auf mich zu gerannt. Doch hab ich mich nicht aus der Ruhe bringen lassen.“
Der große Mann hielt nun seine Hände, als wenn er eine Armbrust halten würde und kniff ein Auge dabei zu, während er von seiner angeblichen Heldentat berichtete. Doch Syrill achtete kaum auf ihn. Seine Eltern und Olinga waren gerade aufgestanden und machten sich auf, in Richtung ihres Wagens. Syrill tippte seinem Bruder an dessen Knie. Als dieser Marius ausschweifende Erzählung kurz außer Acht ließ, nickte Syrill leicht in Richtung der sich entfernenden Eltern. Melton verstand sofort, was Syrill ihm zu verstehen geben wollte. Sie warteten noch, bis die Eltern den Wagen erreicht und hineingegangen waren, als sie sich ebenfalls erhoben.
„Erst im letzten Moment, als er mich schon fast berührte… he, wo wollt Ihr denn hin? Ich bin doch noch gar nicht fertig.“, beschwerte sich der Hüne, als er gerade bei dem Höhepunkt seiner Geschichte angelangt war.
„Ich glaub, wir wissen, wie es ausging.“, antwortete Syrill und warf ihm dann lässig einen Knochen zu.
„Außerdem haben wir heute genug von Wildschweinen gehabt.“, fügt Melton noch hinzu. „Wobei… da fällt mir eine Sache ein. Hatte das Schwein vielleicht zufällig einen großen roten Fleck auf dem Rücken?“
Doch noch bevor Marius überhaupt Zeit gehabt hätte, dem zu antworten, zog Syrill bereits seinen Bruder mit sich fort.
Zurück blieb ein ziemlich dämlich drein blickender Mann, der so gar nicht recht erfassen konnte, was hier gerade vorgefallen war.

Den nächsten Teil könnt ihr hier wieder am Samstag finden.

Samstag, 24. September 2011

1. Kapitel Teil 5 - Wiedersehen

Schon von weitem konnten sie Musik und gedämpftes Lachen hören. Viele aus der Gruppe sangen gen Abend gemeinsam ihre Lieder. Fast jeder konnte ein Instrument spielen und tat dies teilweise auch während den Vorstellungen.
Die Brüder wussten, dass es wohl bald Abendessen geben musste, denn normalerweise wurden die Weisen erst angestimmt, wenn das gemeinsame Essen zubereitet wurde. Die Musik hatte sich zu so etwas wie einem Zeichen entwickelt. Alle, die noch im näheren Umkreis unterwegs und mit ihren täglichen zusätzlichen Aufgaben wie Holz holen beschäftigt waren, wussten so, dass es Zeit war ins Lager zurückzukehren. Syrill und Meltons Mutter, die mit ein paar der anderen Frauen für das leibliche Wohl verantwortlich war, sah es gar nicht gern, wenn die Essenszeiten – von wem auch immer – nicht eingehalten wurden. Selbst die älteren Schausteller sollten da schon eine gute Entschuldigung parat haben, wenn sie zum Essen nicht anwesend waren. Da meistens für eventuellen Nachzügler auch kaum etwas übrig blieb, wurde das gemeinsame Speisen während ihrer Überlandfahrten auch von allen respektiert und eingehalten. Nur innerhalb von Ortschaften, wurde von dieser Regelung Abstand genommen.
Trotz der eigentlich triftigen Gründe, die die zwei Brüder für eine Verspätung gehabt hätten, waren sie doch froh, noch rechtzeitig angekommen zu sein. Überhaupt spürten sie eine starke Erleichterung, als sie sich endlich dem Lager näherten und die vertrauten Gesänge hörten.
Wenige Schritte später konnten sie auch endlich die bunten Wagen zwischen den Bäumen hindurch erkennen.
Die acht geschlossenen Wagen standen noch immer, in zwei Reihen am Rand der Lichtung, um anderen Reisenden das Vorbeifahren nicht unnötig zu erschweren. Bunt bemalt und mit allerlei Zierrat behangen, sollte schon allein die Aufmachung zeigen, wer unterwegs war. So sprach sich meist auch schon vor der eigentlichen Ankunft in den nächsten Ortschaften, die bevorstehende Abwechslung unter den Einwohner herum. Nur selten kam es vor, dass sie unterwegs nicht von Reisenden überholt wurden, die die Botschaft mit ins nächste Dorf getragen hätten.
Auf dem freien Platz vor den Wägen brannte ein recht ansehnliches Feuer, um welches herum sich die Gruppe eingefunden hatte.
Es war ein buntes Häuflein unterschiedlichster Gestalten. Da sie Darbietungen von einstudierten Stücken mit meist komödiantischem Inhalt, bis hin zu artistischen Einzelnummern präsentierten, spiegelte sich dies auch innerhalb der Schausteller wieder. Etliche hatten ein recht exzentrisches Aussehen, das ihre Fähigkeiten und Spezialitäten unterstrich. Bei manchen geschah dies, ohne dass sie sich dessen eigentlich bewusst waren und andere wiederum – wie der Zauberer Xarabos – kultivierten ihre Erscheinung und die Wirkung, die sie auf Ihre Umwelt hatten richtiggehend.
Die meisten befanden sich schon recht lange mit Syrill und Meltons Eltern auf Reisen und nur wenige kannten die beiden Brüder nicht schon seit deren jüngsten Sommern. Es war eine verschworene Gemeinschaft, die auch zuletzt immer dichter zusammengewachsen war.
Als die Brüder und Olinga von der Lichtung nur noch wenige Baumreihen trennte, trat ihnen plötzlich, hinter einem der Stämme hervorkommend, eine dunkel gekleidete Gestalt in den Weg.
„Wer spaziert denn da so spät noch im Wald herum?“
Erschrocken zuckten die drei zusammen. Nichts hatte zuvor auf das plötzliche Auftauchen des Mannes hingedeutet. Seine Bewegungen waren elegant und fliesend. Seine Haltung ließ zugleich Anmut und Überheblichkeit erkennen. Ein paar Haare fielen ihm in die Stirn, als er die Reaktion der drei genüsslich auskostete.
„Und wen habt ihr denn da mitgebracht?“, fragte der drahtige Mann mit hämischer Stimme.
Melton zog tief Luft ein und presste dann zischend hervor: „Ich hasse es, wenn du das machst. Kannst Du dich nicht einmal bewegen, wie es normale Leute tun?“
„Du meinst trampelnd und schreiend?“
Der Tonfall klang beiläufig, als hätten sie dieses Gespräch schon des Öfteren geführt. „Nein…, ich glaube nicht.“
Ein breites Grinsen stahl sich nun auf das Gesicht der dunklen Gestalt, was den Mann etwas freundlicher erscheinen ließ.
„Jetzt sagt aber mal, wen ihr da in eurer Begleitung habt?“
Olinga, die sich nun auch wieder von ihrem Schreck erholt hatte, antwortete daraufhin: „Nur eine alte Kräuterfrau, welche die Jungen wieder zurück zu ihrer Familie bringt. – Und es ist äußerst unziemlich über jemanden in dessen Gegenwart zu sprechen, als ob diese Person nicht anwesend wäre oder nicht des Redens mächtig sei. Eine erste Vorstellung eurerseits wäre just richtig gewesen, in solch einem Moment. Lasst Euch das gesagt sein, Jungchen. Beim nächsten Mal werde ich nicht so nachsichtig mit eurem flegelhaften Verhalten sein.“
Daraufhin besah sie ihn noch, mit einem strengen Blick und schritt dann einfach an ihm vorbei, weiter in Richtung Lager.
Syrill und Melton sahen sich daraufhin teils belustigt, teils irritiert an. Eine so gehobene Ausdrucksweise waren die zwei, sonst nur von wenigen der Schausteller und dann auch nur während eines Stückes gewohnt. Bei Olinga wirkte es für die Brüder irgendwie... unpassend.
„Tja Dareck, mach den Mund zu. Sonst nistet noch ein Vogel drin.“ Aus Syrills Stimme war deutlich heraus zu hören, wie sehr ihn der überraschte Gesichtsausdruck des Messerwerfers amüsierte.
„Ich würde sagen, da hat sogar eine ganze Eule Platz.“, ergänzte Melton noch Syrills Äußerung. Dann liefen die beiden schnell hinter der alten Frau her.

Tatsächlich hatte sich schon der größte Teil der Truppe um das Feuer herum versammelt und wartete nur darauf, dass endlich das Schwein, das sich auf einem Spieß darüber drehte, angeschnitten wurde. Eine der Frauen stand daneben und begoss fleißig den Braten. Mit einem großen Messer schnitt sie dann erste Fleischstücke herunter und verteilte diese an die wartende und hungrige Mannschaft.
Olinga sah sich gründlich um und fragte dann: „Wo sind denn eure Eltern? Ich kann sie gar nirgends sehen.“
„Die kommen bestimmt gleich. Sie sind wahrscheinlich noch in unserem Wagen. Vater verpasst nie ein Essen und Mutter schon gleich gar nicht. Sie muss doch sehen, ob auch keiner fehlt.“ Meltons Stimme klang leicht vorwurfsvoll, als er über die bestimmende Art seiner Mutter sprach.
Auch Syrill war aufgefallen, dass die Eltern noch nicht zum Essen erschienen waren. Er fragte sich, was der Anlass dieser untypischen Verzögerung war und hoffte, dass es nicht mit ihrem langen Ausbleiben zu tun hatte.
Bis jetzt hatte noch niemand richtig Notiz von den drei Neuankömmlingen genommen.
„Kommt, wir bringen euch zu ihnen. Ich sollte mich sowieso noch kurz waschen. Wenn Mutter mich so beim Essen sieht, kann ich den morgigen Tag wieder neben dem Wagen herlaufen.“ Dabei sah Melton an sich und seiner, noch immer verschmutzten Kleidung hinunter.
„Ihr müsst zur Strafe laufen, wenn ihr was ausgefressen habt?“, fragte daraufhin die alte Frau.
„Von wegen.“, antwortete Syrill. „Aber wenn Mutter ihn so beim Essen sieht, dann kann er eine ganze Weile nicht mehr sitzen.“
Ein verstehendes Schmunzeln zeigte sich daraufhin auf Olingas Lippen und ein belustigtes Glitzern war in ihren Augen zu erkennen.
Mit ausgestrecktem Arm auf einen der Wagen zeigend, erklärte Melton: „Der letzte Wagen da hinten – das ist der unsrige.“
Kaum hatte Melton seinen Satz beendet, traten wie zur Bestätigung erst ein Mann und dann eine Frau aus dem Wagen. Beide waren wohl in eine hitzige Diskussion verstrickt, da sie noch immer miteinander redeten und wild herum gestikulierten, während sie den Wagen verließen. Erst nach ein paar Schritten nahmen sie die Kinder wahr. Die Blicke der Eltern trafen erst die Jungen und fanden dann das alte Mütterchen. Der Mann und die Frau blieben beide wie angewurzelt stehen und sahen sich dann fassungslos an. Hin und her wechselten die Blicke. Wie um sich noch einmal von dem Gesehenen überzeugen zu müssen, wanderten Ihre Augen dann zurück zu den Kindern und der Frau. Syrill und Melton bemerkten dieses seltsame Schauspiel. Sie konnten jedoch nicht erahnen, was hier vor sich ging.
„Es freut mich außerordentlich, euch nach so langen Jahren wieder zu sehen.“, beendete die Kräuterfrau plötzlich das atemlose Schweigen zwischen den Erwachsenen und trat auf die überraschten Eltern zu.

Weiter geht es hier am Mittwoch.

Dienstag, 20. September 2011

1. Kapitel Teil 4 - Rückweg

Nach einem kurzen Moment der Fassungslosigkeit und des Erstarrens eilte sie los. Die Kinder vergessend, raffte Mütterchen Olinga ihre Röcke und lief so schnell, wie sie aufgrund des Alters und der kurzen Beine konnte. In Gedanken sah sie bereits ihre sämtliche Habe in Flammen stehen. Alles was sie besaß und nicht gerade bei sich trug, befand sich in dieser Hütte.
Melton und Syrill blieben nicht lange zurück. Die beiden sahen sich nur kurz an und ohne ein Wort zu wechseln, rannten sie fast zeitgleich dem Mütterchen hinterher. Auf der Hälfte der Wegstrecke hatten sie sie bereits eingeholt und waren schlussendlich ein paar Atemzüge vor ihr da. Doch bereits auf dem letzten Stück Weges, ließ sich das Ausmaß erahnen.
Die Hütte befand sich auf einer kleinen Lichtung und stand lichterloh in Flammen. Am Rand der Bäume waren die zwei Brüder stehen geblieben und sahen auf das Desaster. Nur aus Holz und Schindeln erbaut, hatte das Feuer offensichtlich bereits alles Brennbare der Hütte ergriffen. Die Flammen standen so hoch, dass bereits die ersten Kronen der umliegenden Bäume zu glimmen begannen. Laut und bösartig klang das Knacken und Bersten des Holzes. Immer wieder konnte man die Funken stieben sehen, wenn ein weiterer Teil der Hütte einbrach.
Nach Luft ringend stand schließlich Olinga neben den Jungen. Fassungslos besah sie das Drama. Melton, der sich zu ihr umdrehte, konnte Tränen in ihren Augen schimmern sehen.
Für sie brach eine Welt zusammen. Wie konnte das geschehen? Kein Feuer war von ihr angelassen, kein glimmendes Holzscheit noch im Ofen – sie war sehr gewissenhaft bei diesen Dingen, dessen war sie sich sicher. Vor ihrem geistigen Auge sah sie all ihre Habseligkeiten als Opfer der Flammen. Sie wusste, dass nichts wirklich einen großen materiellen Wert besaß, doch waren an Vieles davon Erinnerungen geknüpft.
„Das ist schrecklich. War das… ist das wirklich eure Hütte?“ Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Die Antwort kannte er schließlich schon bereits. Melton sah noch immer die alte Frau an. Sie wirkte nun noch älter in ihrem Gram.
Olinga nickte und antwortete mit zitternder Stimme: „Ja, hier verbrachte ich den letzten Teil meines Lebens.“
Syrill, der ganz in Gedanken war, sprach auf einmal: „Warum wirken eigentlich die Flammen so grün?“ Er schien gar nicht zugehört zu haben - das Schauspiel des Feuers faszinierte ihn trotz aller Betroffenheit zu sehr. „Schaut doch, immer wieder ein Wechsel von blau zu grün!“
Es stimmte, das bemerkten nun auch Melton und Olinga. Viele der Flammen hatten eine blaue, wie auch grüne Färbung.
Das alte Mütterchen kannte sich in solchen Dingen aus. Sie wusste, dass sich nichts in ihrer Hütte befand, dass in solchen Farben abbrennen würde. Dies ließ für sie nur einen Schluss zu, es war tatsächlich kein Unfall gewesen. Im ersten Moment war sie erleichtert. Wäre sie selbst durch ein Versehen für das Feuer verantwortlich gewesen, hätte sie sich das nie verziehen.
Doch im nächsten Moment kam das Erkennen. Instinktiv wich sie etwas zurück in den schützenden Wald. Sie ließ hektisch ihren Blick über die Lichtung schweifen. Hierhin und dorthin, doch was sie suchte, war nicht zu entdecken. Es gab einen anderen Verursacher für dieses Feuer und dieser war unter Umständen noch in der Nähe.
Doch wer konnte ihr so etwas antun wollen? Sie war als gutmütige Kräuterfrau in der Umgebung bekannt, die niemandem etwas zu Leide tat. Im Gegenteil, die Leute mochten sie und viele riefen als erstes nach ihr, wenn jemand ernstlich krank war.
Die Geschichte der Kinder fiel ihr plötzlich wieder ein, was ihre Panik steigerte. Dieser Zufall wäre zu groß gewesen, als dass hier kein Zusammenhang bestehen könnte. Ihr Atem ging schneller. Sie wollte jetzt nur noch weg von hier. Ihre Hütte war einerlei.

„Kinder kommt, wir müssen los!“ Die Eindringlichkeit in ihrer Stimme ließ beide sich zu ihr umdrehen. Noch immer schaute sie sich hektisch um, was nun auch Syrill bemerkte.
Vorsichtig und misstrauisch fragte er: „Was ist? Was sucht ihr? Wollt ihr nicht schauen, ob noch was zu retten ist?“
Sie sprach sehr schnell, da sie keine Zeit verlieren wollte: „Nein, das hat eh keinen Zweck. Es ist alles zerstört. Aber jemand ist hierfür verantwortlich und dem möchte ich nicht zusammen mit euch begegnen.“
Die Kinder begriffen. Sofort hatten sie das Bild der Gestalt aus dem Lichtkreis vor Augen.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Nicht wie sie gekommen waren, sondern in eine etwas andere Richtung. Olinga führte die beiden Brüder, so schnell sie konnte von der Lichtung fort. Sie suchte sich einen Weg, der sie zurück in die dichteren Teile des Waldes brachte. Sie wollte einen Pfad, der ihnen etwas Deckung bot und auf dem sie, nicht bereits von weit her, zu sehen waren.
Erst etliche Zeit später verlangsamte sie wieder ihre Schritte. Hier fühlte sie sich wieder etwas sicherer, sie erlaubte es ihnen sogar, kurz stehen zu bleiben und Atem zu schöpfen.
Das Mütterchen kannte jeden einzelnen der umliegenden Bäume, wie auch die schmalsten Trampelpfade, die zwischen diesen hindurch führten. Tag für Tag durchstreifte sie das Gehölz auf der Suche nach ihren Kräutern, oder auch nur der inneren Ruhe wegen. Sie mochte den Wald und spürte eine innige Bindung zu allem was hier kreuchte und fleuchte. Nie hätte sie gedacht, dass hier einmal Gefahren auf sie lauern könnten.
So standen die drei nun also verschnaufend im Wald. Den Brüdern hatte der Eilmarsch kaum etwas ausgemacht. Sie waren allerdings von der Panik des Mütterchens angesteckt worden und das Gefühl bedroht zu werden, hatte auch von ihnen Besitz ergriffen. Wohl behütet und von allen Seiten der Schaustellertruppe stets beschützt, hatten die Jungen bisher noch keine tatsächlichen Gefahren kennen gelernt. Vor einem Wildhauer davon zu laufen, war bisher das Schlimmste, was ihnen widerfahren war. Doch selbst das war mehr ein Spiel. – Nicht so in diesem Moment und es waren ihnen noch nicht einmal die Gründe bekannt.
Doch in Syrills Gefühle mischte sich noch etwas anderes. Es war Wut. Er wollte nicht vor etwas davon laufen, ohne die Ursache dafür zu wissen. Selten konnte er einfach etwas hinnehmen, was ihm geschah und in diesem Fall noch weniger als sonst.
„Warum steckt jemand eure Hütte in Brand?“, fragte Syrill frei heraus mit schneidender Stimme. „Ihr sagtet, es sei jemand dafür verantwortlich, also frage ich euch wer und warum?“
Kurz zuckte er innerlich zusammen, als ihm der Gedanke kam, dass das Mütterchen doch eine Hexe sein könnte und sich vielleicht jemand für einen bösen Fluch oder etwas Ähnliches rächen wollte. Doch im nächsten Augenblick hatte er wieder das Schauspiel des Lichtkreises vor Augen und glaubte nicht mehr so recht an eine böse Seite Olingas. Normalerweise hatte Syrills Bruder Melton ein sehr gutes Bauchgefühl was fremde Menschen anging und bisher wirkte es auf ihn nicht, als hätte Melton Vorbehalte gegenüber der alten Frau. Sie hatten gelernt auf die jeweiligen Stärken des Anderen zu achten und diesen zu vertrauen. Zu unterschiedlich waren die beiden Brüder, als dass sie sich bisher, bei einer ihrer Fähigkeiten ins Gehege gekommen wären.
„Wenn ich das genau wüsste, wäre mir auch wohler. Da ich es aber nicht weiß, beeilen wir uns einfach, dass ihr möglichst bald wieder zu Hause seid. Eure Eltern machen sich bestimmt auch schon Sorgen. Also hopp, Kinderchen, es geht weiter!“
Mit diesen Worten richtete sich Olinga wieder auf und marschierte einfach los.

Es dauerte noch eine ganze Weile bis die drei endlich die große Handelsstraße erreicht hatten, die durch den Wald führte. Olinga hatte sie immer wieder große Bögen schlagen lassen, um eine eventuelle Verfolgung, so schwierig wie möglich zu gestalten. In der Zwischenzeit verschwand auch die Sonne bereits hinter den ersten Baumwipfeln und eine gewisse Kühle machte sich breit.
Olinga wählte einen Weg parallel und etwas abseits zur breiten Straße, der sie früher oder später zum Lager der Schaustellertruppe führen sollte. Syrill und Melton hatten berichtet, dass die Gruppe bei einer recht großen Lichtung rasten würde, auf der sich zwei Straßen vor einer kleinen Brücke trafen. Die Brücke führe über einen etwas breiteren Bach und die Truppe würde heute dort ihren Waschtag abhalten. Vor den nächsten Auftritten sollten die Kostüme sauber sein. Nur deswegen hatten Syrill und Melton überhaupt die Möglichkeit bekommen, im Wald ihr kleines Jagdabenteuer zu bestehen. Olinga wusste gleich von welcher Lichtung die Kinder sprachen.

Der nächste Teil kommt am Samstag.

Samstag, 17. September 2011

1. Kapitel Teil 3 - Olinga

Vor ihnen stand eine alte Frau in schäbigen Gewändern. Sie war nicht sonderlich groß und hatte einen unübersehbaren Buckel. Ihr graues Haar hing ihr in zotteligen Strähnen ins Gesicht, aus dem eine große spitze Nase hervorstach. Ihr kleiner Mund war zu einem belustigten Grinsen verzogen und ihre klaren, blauen Augen wirkten überraschender Weise recht freundlich.
„Was ist los Kinderchen, hat es euch die Sprache verschlagen? Oder habt Ihr vor Schreck eure Zungen verschluckt?“ Sie kicherte wieder heiser in sich hinein. „Nun schaut mich nicht an wie eine Kuh, wenn’s donnert. Nicht alle buckligen Mütterchen, essen gern so kleine appetitliche Happen, wie ihr es seid. Was sucht Ihr also hier, so allein im Wald?“
„Äh, da war ein Mann.“, platzte es aus Melton. „Da vorne zwischen den Bäumen.“
„Ein Mann, so, so. Und dem seid ihr nachgegangen?“
„Nein, wir sind doch vor dem Keiler geflohen.“ Melton war irritiert. Hatte sie den Mann denn nicht gesehen?
Syrill stieß seinen Bruder in die Seite. Ihm war die Alte nicht geheuer und er war sich nicht sicher, ob sie dieser Person, die nicht minder ungewöhnlich wirkte, als die restlichen Ereignisse des Tages, sofort vertrauen sollten.
Daher ergriff er nun das Wort: „Auf jeden Fall, sind wir eigentlich gerade auf dem Weg zu unseren Eltern. Wenn wir uns nun also wieder auf den Weg machen dürften, wären wir Euch sehr verbunden.“
„Wo sollen die denn sein? Ich kenne alle umliegenden Höfe, mit ihren Bewohnern. So viele sind das nicht, als dass zwei Jungen Mütterchen Olinga entgangen wären.“
„Kein Hof, die lagern in der Nähe auf einer Lichtung. Wir gehören zu einer fahrenden Schaustellertruppe. Und unsere Eltern leiten die sogar. Meister Hastors fahrendes Theater.“
Der Stolz in Meltons Stimme war nicht zu überhören. In Gedanken ganz bei den schillernden Kostümen und dem beliebten Programm, entging ihm völlig, wie sich Mütterchen Olingas Stirn, nachdenklich in Falten legte. Nur Syrill entging dies nicht.
Sie schien einen Moment zu überlegen, doch dann meinte sie: „Da ich nicht glaube, dass ihr den Weg zu Euren Eltern ohne Schwierigkeiten allein findet, wird es wohl das Beste sein, wenn ich Euch selbst dorthin bringe. Vorher werden wir aber noch bei meiner Hütte vorbeischauen, das ist nicht weit und dort könnt ihr euch auch waschen… Was ist das eigentlich, was Du da in den Haaren und deinem Gesicht hast?“
Mit diesen Worten griff die Alte nach Meltons Haar, das noch immer von dem roten Saft verklebt war. Erschrocken zuckte er kurz zurück, blieb dann aber tapfer stehen. Sie fuhr ihm mit ihren knöchernen Fingern und den langen, gelben Nägeln durch die Strähnen und roch dann ausgiebig daran.
„Ist das Rotwurzbeere?“
Syrill nickte, er hatte die prallen Beeren selbst gesammelt.
Kopfschüttelnd, aber kichernd drehte sich das Mütterchen mit dem Buckel um und ging ein paar Schritte davon. Als sie merkte, dass die zwei Jungen noch immer stehen blieben und keine Anstalten machten ihr zu folgen, wandte sie sich erneut zu ihnen.
„Was ist? Auf geht’s, ich möchte eigentlich nicht auf den Abend warten. Wenn wir nicht länger trödeln, seid ihr in kürzester Zeit wieder bei euren Eltern.“
Zögerlich setzten sich Syrill und Melton in Bewegung. Sie waren noch immer unsicher mit der Alten, doch ihre Art schien keinen Widerspruch zu dulden. Geduldig wartete sie, bis die beiden Brüder zu ihr aufgeschlossen hatten und führte sie dann neben sich durch den Wald.
Syrill sah sich immer wieder um, doch konnte er keinerlei Orientierungspunkte ausmachen. Jeder Baum schien dem vorherigen zu gleichen und jede kleine Schneise der zuvor. Er fragte sich, wie es dem Mütterchen gelang, sich hier zu Recht zu finden.
Während er so vor sich hin überlegte, fiel ihm plötzlich auf, dass die unheimliche Stille verschwunden war. Er konnte Vögel zwitschern hören und auch die Wipfel der Bäume bewegten sich wieder im Wind. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, wann dies geschehen war, doch es war ihm nichts im Gedächtnis geblieben, woran er einen Zeitpunkt hätte festmachen können. Er fragte sich, ob vielleicht Melton etwas bemerkt hatte und gerade wollte er seinen Bruder darauf ansprechen, als ihm die Alte zuvor kam.
„Oh, die Vögel singen wieder. Das ist schön. Hört ihr sie? Ich frage mich, was sie zum Verstummen brachte?“ Sie schien mehr mit sich selbst zu sprechen und keine wirkliche Antwort zu erwarten. Umso erstaunter war sie, als sie doch eine bekam.
„Das lag bestimmt an dem Mann, der aus dem Lichtkreis kam.“ Melton ging neben ihr und sagte das ganz beiläufig – so, als ob es überhaupt keine andere Erklärung dafür geben könne.
Irritiert blieb das alte Mütterchen stehen. „Was meinst du mit Lichtkreis und heraus kommen?“
Nun auch inne haltend, drehte sich Melton zu ihr um.
„Na vorhin, ich sagte doch, dass da ein Mann war. Syrill meinte zwar es wäre eine Frau gewesen, aber das glaube ich nicht.“
Syrill, der sich neben seinen Bruder stellte, beobachtete die Alte genau. Sie schien nun doch an der Geschichte der Beiden Interesse gefunden zu haben. Sehr sogar.
„Ja, ja, ich erinnere mich, dass du von einem Mann gesprochen hast, aber einen Lichtkreis hast du nicht erwähnt.“
„Na, da war vorhin so ein Blitzen zwischen den Bäumen. So was haben wir noch nie gesehen, nicht wahr Syl? Es sah aus, wie wenn man ein Feuerwerk abbrennt, aber es bewegte sich nicht, sondern war ganz starr an einer Stelle. Doch dann wurde es auf einmal größer und schließlich kam ein Mann daraus hervor. Er war zwar nicht richtig zu erkennen, wegen dem Mantel und so, aber ich bin mir ganz sicher, dass es ein Mann war.“
Melton hatte sich richtig in Erregung geredet. Seine Wangen glühten bei der Erinnerung an das zuvor Erlebte. Die dabei erlebte Unsicherheit und Angst waren selbst nach der kurzen Zeit wie weggewischt und es blieb nur noch der Gedanke, an ein aufregendes Abenteuer in ihm zurück.
Nicht so bei Syrill. Er erlebte nicht oft ein Gefühl der Beklemmung und sah sich normalerweise stets Herr der Lage. Umso tiefer saßen daher bei ihm das Geschehene und die dabei empfundenen unguten Gefühle. Er konnte nichts Faszinierendes mehr an dem gesehenen Lichtkreis empfinden, sondern es blieben nur noch das Unbehagen und die laut schrillenden Alarmglocken zurück. – Und das, was er in den Augen der Alten sah, vertiefte das Gefühl mit seiner Vorsicht Recht zu haben.
Nachdenklich stand das Mütterchen da, in ihren Gedanken schien es sich zu überschlagen.
„Was ist dann geschehen? Habt ihr die Augen gesehen?“ Olingas Stimme war zu einem heiseren Flüstern geworden, als verspüre sie Scheu vor der möglichen Antwort.
„Er ging weg und schien es dabei sehr eilig zu haben. Und wie gesagt lag sein Gesicht im Schatten der Kapuze. Wie hätten wir da denn Augen sehen sollen, wenn wir doch nicht mal erkannten, ob es ein Mann oder eine Frau war?“ Melton schüttelte den Kopf über diese für ihn eindeutig absurde Frage.
„Wohin, nehm’ ich an, könnt ihr mir auch nicht sagen? Nein, lasst gut sein, ich weiß, wir sind im Wald und jede Richtung muss für Euch hier gleich sein. Wir sollten uns wohl etwas sputen, auf unserem Weg.“
‚Auf welchem Weg?’, fragte sich Syrill, doch folgte er diesmal ohne Umschweife, als sie zügigen Schrittes vorauseilte. Der Wald wirkte kurze Zeit später wieder etwas freundlicher, was mit daran lag, dass hier die Stämme nicht so nah beieinander standen und durch die sonst dichten Baumkronen mehr Licht drang. Ebenso gab es hier weniger Büsche oder andere natürliche Hindernisse, die ihren Weg zuvor noch erschwert hatten. Doch trotz alledem vermittelte der Wald noch immer ein Gefühl der Macht und Erhabenheit. Diesem Bereich hier schien eine gewisse eigentümliche Energie inne zu wohnen. Ja, Syrill hatte sogar fast den Eindruck, ein richtiges Kribbeln in seinem Nacken zu verspüren.
Melton wiederum schien davon nichts zu bemerken. Er verspürte eher eine leichte Beschwingtheit, die er sich selbst nicht richtig erklären konnte. Vielleicht lag dies daran, dass sein Bruder einmal nicht im Vordergrund stand, sondern sich bei Meltons Erzählung zurück gehalten hatte und so das alte Mütterchen alle Antworten von ihm erhielt. In der Zwischenzeit mochte er sie sogar fast schon ein wenig. Ihre Augen strahlten eine gewisse Mischung von Weisheit und Wissen aus, das spürte er. Auch eine Vertrautheit hatte er in ihnen entdeckt, die ihm die vorherige Scheu nahm, selbst wenn sie auf den ersten Blick, wie eine typische Hexe aus den Lagerfeuergeschichten wirkte. – Und er hatte vielen von diesen Geschichten gelauscht.
Wie alle so in ihre Gedanken vertieft waren, entging ihnen völlig ein leichtes Flackern zwischen den Bäumen. Es war noch ein gutes Stück entfernt, doch schien es direkt auf ihrem Weg zu liegen. Wenige Schritte später hatte Syrill es entdeckt: „Was ist das da vorn? Sieht aus wie ein Feuer.“
Syrill zeigte mit ausgestrecktem Arm direkt auf das Flackern. Seinem Blick nun folgend, konnten auch Melton und Olinga die Flammen erkennen.
Entsetzt stammelte das Mütterchen: „Das… das ist meine Hütte. Meine Häuschen brennt!“

Der nächste Teil folgt wie üblich am Mittwoch.

Dienstag, 13. September 2011

1. Kapitel Teil 2 - Magie

Zügig machten sich die zwei auf den Weg. Das Lager der Wandertruppe, der sie und ihre Eltern angehörten, lag nicht sonderlich weit entfernt auf einer Lichtung innerhalb des Waldes. Sie hatten extra darauf geachtet, sich während ihrem Spiel nicht allzu weit von dort zu entfernen, doch jetzt kam ihnen der Weg viel zu lang und unbekannt vor.
„Bist du sicher, dass wir in die richtige Richtung gehen?“, fragte Melton seinen Bruder. Der Wald wurde immer dichter und unheimlicher und die merkwürdige Stille lag wie ein Mantel über allem.
Zögerlich antwortete Syrill, seine Schritte verlangsamend: „Wenn ich ehrlich bin… nicht so recht.“
Er blieb stehen und schaute sich erneut um, konnte jedoch noch immer nichts Bekanntes entdecken.
„Verdammt!“, entfuhr es ihm. „Ich hatte mir doch extra den Weg eingeprägt, aber hier wirkt alles so gleich.“
„Ich kann die Sonne auch überhaupt nicht sehen. Was meinst du, wie spät haben wir es?“ erwiderte Melton verunsichert, während er nach oben schaute und versuchte, mit seinen Blicken das dichte Blätterdach zu durchdringen.
Syrill wusste darauf keine Antwort. Mit zuckenden Schultern sagte er: „Ich denke, es wird das Beste sein, wenn wir wieder umkehren. Dahin zurück, wo wir uns vor dem Keiler auf die Bäume verzogen haben. Vielleicht finden wir von dort den Rückweg wieder.“
So kehrten die beiden um. Doch waren sie keine drei Schritt gegangen, als Syrill Melton plötzlich an der Schulter packte und nach links zeigte.
„Was ist denn das?“
Zwischen ein paar Bäumen - nicht allzu weit entfernt - war ein merkwürdiges Flackern zu sehen. Ein Punkt mitten in der Luft, von dem kleine Blitze ausgingen und der sich zügig vergrößerte. Der Punkt wurde zum Kreis und sah bald aus wie ein Band aus rotgelbem Licht. Ein leises Knistern kam von dort und war alles, was in dem noch immer stillen Wald zu vernehmen war. Gebannt und fasziniert standen die beiden Jungen da.
Leise flüsterte Melton: „Hast du so was schon mal gesehen?“
Syrill schüttelte nur stumm den Kopf. Das Schauspiel, das sich ihnen bot, war schön und beunruhigend zugleich. Je größer der Lichtkreis wurde, um so lauter schrillten in Syrill Alarmglocken, seinen Bruder zu schnappen und schnellstens von hier zu verschwinden. Doch wie die Maus, vor der hoch aufgerichteten Schlange, konnte er den Blick nicht abwenden. Der Durchmesser des Lichtbogens maß nun schon den Schritt eines ausgewachsenen Mannes. Erst als Melton an Syrills Ärmel zupfte, löste sich die Starre.
„Mel, lass uns abhauen!“, murmelte Syrill zu seinem Bruder.
Der Ring war noch immer am größer werden, als die beiden Jungen sich umdrehen und davon rennen wollten. Im letzten Moment hielt Syrill inne und zog seinen Bruder in Deckung hinter ein Gebüsch. „Warte! Schau!“
Das Band hatte nun einen gleichmäßigen Durchmesser und schien sich nicht weiter zu vergrößern. Vom Mittelpunkt her liefen gleichmäßig Wellen auf den äußeren Rand zu, um sich dort in schwachen Blitzen zu zerstreuen. Doch was Syrill inne halten ließ, war etwas anderes.
Aus der Mitte des Kreises schob sich erst eine Hand, gefolgt von einem Arm in dunkler Kleidung. Auch ein Bein trat plötzlich aus dem Kreis, wie hinter einem Vorhang hervor, um den restlichen Körper nachfolgen zu lassen. Die Gestalt maß etwa sechs Fuß und war in einen dunklen Mantel gekleidet. Die Kapuze des Mantels war tief ins Gesicht gezogen, sodass nicht zu erkennen war, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die schmale Figur hätte durchaus zu beiderlei Geschlecht gehören können.
Gespannt kauerten die beiden Jungen hinter einem Busch und harrten der Dinge, die sich da abspielten. Vor ihren Augen begann der Lichtkreis, hinter der Gestalt plötzlich wieder zu flimmern und innerhalb weniger Lidschläge zog er sich auf einen kleinen leuchtenden Punkt zusammen, der abrupt in einem schwachen Blitz verschwand. Alles was übrig blieb, war nur die Gestalt.
Ohne lange abzuwarten und scheinbar mit einem konkreten Ziel vor Augen, drehte diese sich um und schritt schnellen Fußes, zwischen den Bäumen hindurch, Syrill und Melton immer weiter hinter sich lassend.
Mehrere Momente hielten die Jungen noch unsicher inne. Erst dann löste sich die Anspannung.
„Was war das?“, fragte Melton noch immer flüsternd seinen Bruder. Die Ereignisse an diesem Tag überforderten ihn so langsam. Doch auch Syrill erging es nicht anders.
„Das muss ein Zauberer oder eine Hexe gewesen sein. Aber nicht so ein Scharlatan wie unserer. Mit allen Tricks und Kunststücken kommt er nicht an das hier ran. Das muss wahre Magie gewesen sein.“
Xarabos, oder Xarabos der Große, wie er sich selbst nannte, war ebenfalls Schausteller in ihrer Gruppe. Er war ein kleiner, dicker und sehr launischer Mann, der sich stets für etwas Besseres hielt. Immer wieder berief er sich auf seine großen magischen Fähigkeiten, doch die Jungen wussten es besser. Schon vor Jahren waren sie an einem Sommertag, in seinen Wagen eingedrungen und hatten sämtliche seiner Kunststücke erkundet. Nachdem er sich wieder einmal den Wanst voll geschlagen hatte, nutzten sie hierzu sein obligatorisches Mittagsschläfchen unter einem schattigen Baum. Nicht eine doppelte Klappe oder ein noch so dünner Faden waren ihnen entgangen. Aber das hier war etwas völlig anderes, dessen waren sich die zwei sicher.
„Wir machen uns jetzt besser auf den Weg.“, entschied schließlich Syrill.
„Meinst du nicht, wir sollten uns erst noch die Stelle dort anschauen, wo gerade der Hexer erschienen ist?“
„Ich weiß nicht.“, entgegnete Syrill unentschlossen. „Und wieso glaubst du eigentlich, dass es ein Mann gewesen ist? Vielleicht war es auch eine Hexe.“
„Ach was, der war doch viel zu groß für eine Hexe. Hexen sind klein und bucklig.“
„Ach, sind sie das?“ Eine kichernde, heisere Stimme ließ die zwei erschrocken herumfahren.

Der nächste Teil folgt wieder am Samstag.

Freitag, 9. September 2011

1. Kapitel Teil 1 - Die Jagd

Die Jagd dauerte nun schon eine ganze Weile. Immer wieder war ihm sein Ziel mit knapper Not entkommen. Geschickter als erhofft, das musste er sich eingestehen. – Nun ja, jeder machte mal einen Fehler, doch dieser ließ sich noch immer korrigieren.
Leise schlich er durch das Unterholz, stets bedacht, seine unmittelbare Anwesenheit durch keinen knackenden Ast oder ähnliches zu verraten. Es hatte in diesem Sommer nun schon länger nicht mehr geregnet und das Holz war trocken. Er wusste, dass er irgendwo auf ihn wartete – lauerte.
Vorsichtig schaute er sich um und versuchte immer wieder konzentriert zu lauschen, doch außer den üblichen Waldgeräuschen war nichts zu vernehmen.
Es konnte doch nicht ständig so weitergehen, dachte er bei sich. Dieses Mal wollte er ihn haben. Er sollte büßen für all die Schmach, die er ihm immer wieder bei ihren Jagden angetan hatte.
Da! Ein leises Knacken ganz in seiner Nähe. Schnell richtete er seinen Blick nach rechts und erspähte eine leichte Bewegung in einem Busch direkt neben einer gewaltigen Eiche.
Zügig bewegte er sich darauf zu, den Kopf geduckt, um sich nicht zu verraten. Mit einem, für seine schmächtige Figur, gewaltigen Satz, sprang er um den Busch herum. Ohne richtig zu zielen warf er eine seiner faustgroßen Objekte in die ungefähre Richtung seines Gegners – und traf ein Schwein.
Erstarrt stand der Junge da. Er sah, wie die große Beere am Rücken des mächtigen Wildhauers zerplatzte und sich roter klebriger Saft über das Fell ergoss.
'Mist!', war alles, was ihm in den Sinn schoss. Dann drehte er sich um und nahm seine Beine in die Hand.
Er hatte mit dem verdutzten Gesicht seines Bruders gerechnet und nicht mit solch einem gewaltigen, schwarzen Keiler. – Das war nicht gut, gar nicht gut.
Er rannte was das Zeug hielt und scherte sich nicht darum, wie ihm immer wieder Sträucher und Äste ins Gesicht und gegen seinen Körper schlugen. Hinter sich konnte er das wütende Schnauben und Stampfen des Hauers hören.
Wieder entfuhr im ein „Mist!“ während er sich krampfhaft nach einer Rettung umsah. Wo waren all die tief hängenden Äste, wenn man sie brauchte?
Den heißen Atem des Ungetüms, schon fast auf seinen nackten Beinen spürend, wählte er den nächstbesten Baum. Er sprang mit all seiner Kraft einem dicken Ast entgegen, als ihm eine pralle, rote Beere direkt ins Gesicht klatschte.
Vor Schreck hätte er beinahe wieder los gelassen, doch geistesgegenwärtig hielt er sich fest und zog sich höher. Blind von dem Saft, der ihm die Augen verklebte und mehr schlecht als Recht seine Position unter Kontrolle habend, klammerte er sich an den Ast.
Am Boden, keine fünf Bäume entfernt, stand der eigentlich Gesuchte und war, beim Anblick des Wildhauers, nicht minder überrascht. Sofort kletterte auch er einen Baum hinauf, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Behände und leicht gelang es ihm, sich von einem Ast zum nächsten zu hangeln. Endlich erreichte er eine Position, von der aus er seinen Bruder gut im Blick hatte.
„Mel, alles in Ordnung mit dir? Ich denke, du schuldest mir wieder einen Abwasch.“
Melton, wie der Junge eigentlich richtig hieß, hatte sich endlich die Farbe aus den Augen gerieben, sodass er zumindest ansatzweise wieder etwas erkennen konnte.
„Was anderes fällt dir nicht ein, hä?“ Vorsichtig setzte sich Melton auf dem Ast auf. Es war ein erbärmlicher Anblick, den der erst zwölf Sommer zählende Junge bot. Sein normalerweise hellbraunes Haar hing ihm in roten Strähnen ins Gesicht und die große pralle Beere hatte fast seinen gesamten Oberkörper eingefärbt. Unsicher hielt er sich auf dem Baum, unter dem sich noch immer der Keiler befand.
„Und jetzt Blödmann, was tun wir jetzt? Hast du noch andere Ideen, als nur auf mich zu schmeißen?“, rief Melton verärgert hinüber.
Sein Bruder Syrill musste lachen. „Wenn ich mir deinen neuen Spielgefährten so anschaue, dann war es mit deinen Ideen auch nicht viel weiter her.“
Die rote Farbe auf dem Eber war noch immer deutlich zu erkennen.
Stets gut gelaunt, war Syrill der größere der Beiden. Wo sein Bruder Melton meistens ruhig und etwas in sich gekehrt war, kompensierte Syrill dies völlig. Die meisten Spiele mit denen sich die zwei immer wieder in Schwierigkeiten brachten, waren auf seinem Mist gewachsen. Jedoch verdankten sie es in der Regel auch ihm, dass sie sich bisher, aus jedem Schlamassel wieder herausbugsieren konnten. Sei es mit Worten oder weiteren Taten.
„Ich glaube, dass wir es dieses Mal aussitzen müssen. Irgendwann wird es deinem Freund schon zu langweilig und deinen Gestank von da oben wird er ja auch nicht ewig ertragen können.“
Melton ging auf diese Beleidigung gar nicht mehr ein. Er hatte sich in der Zwischenzeit auf seinen Ast gestellt und ein Stück Holz von etwas weiter oben abgebrochen. Dieses Stück warf er nun in ein Gebüsch hinter dem Eber. Er hoffte das Tier damit etwas ablenken und weglocken zu können, doch es drehte sich noch nicht einmal um.
So saßen die zwei also, jeder auf seinem Baum und warteten, dass der Eber endlich das Weite suchte. Syrill beobachtete das Schwein genau. Ständig schnüffelte es um den Baum herum, auf dem sich sein Bruder Melton aufhielt. Sich schon auf eine längere Sitzung einstellend, sah er wie das Tier auf einmal inne hielt. Als läge plötzlich noch eine andere Witterung in der Luft, die es erst einzuordnen galt, stand das große Tier ruhig da. Doch dann drehte es sich um und sprang davon. Verdutzt schauten die Jungen dem Keiler nach, wie der durch das Unterholz brach und Momente später, nur noch in der Ferne immer leiser zu hören war.
„Was war das?“, rief Syrill zu seinem Bruder hinüber. „Hast du mal wieder einen fahren lassen?“
„Ja, ja. Das mit dem Gestank hatten wir heute schon, Syl.“, gab Melton schnippisch zurück und kletterte langsam und vorsichtig seinen Baum hinab. Syrill tat es ihm gleich, sprang jedoch mehr von einem Ast zum nächsten und gelangte so sicher und geschickt, noch vor seinem Bruder zu Boden.
Neugierig schaute sich Syrill um. Was hatte den Eber nur veranlasst so schnell das Weite zu suchen? Sorgfältig ließ er seinen Blick, über das umliegende Gelände schweifen. Irgendetwas schien ihm tatsächlich anders als zuvor. Nur was?
Melton stand nun neben ihm: „Syrill, horch mal!“
„Was ist?“, fragte er beiläufig.
„Nein, du sollst horchen!“
Syrill lauschte und plötzlich wusste er, was nicht stimmte. – Der Wald. Es fehlten jegliche Geräusche. Kein Vogelgezwitscher war zu hören, kein Knacken von Ästen, nicht einmal das Rauschen der Blätter im Wind. Alles schien beunruhigt den Atem angehalten zu haben und wie erstarrt. Die einzigen Laute kamen von den beiden Jungen selbst.
„Vielleicht sollten wir zurück zum Lager?“, fragte Melton unsicher. „Das macht mir alles keinen guten Eindruck hier.“
„Ja, du hast Recht. Wir sollten los.“

Weiter geht es wieder am Mittwoch.

Dienstag, 6. September 2011

Prolog Teil 5 - Erlösung

Der Junge schlief inzwischen wieder in seinem Schoß, gewärmt von dem niedrigen Feuer, vor dem sie nun saßen. Ringsherum hatte der Hauptmann Zweige zum Trocknen ausgelegt; er hoffte, dass sie dies durch die Nacht bringen würde. Endlich wieder Kraft schöpfend, war er eigentlich dankbar für die Zwangspause, die sie einlegen mussten, auch wenn er wusste, dass ihr Überleben von einer baldigen Unterkunft und vor allem Nahrung abhing. In Gedanken wog er immer wieder ihr weiteres Vorgehen ab. Sämtliche seiner Möglichkeiten zog er in Betracht, doch verwarf er sie alle wieder und egal wohin ihn seine Gedanken trugen, er fand keine Lösung.
Starke Müdigkeit erschwerte ihm zusätzlich das Nachdenken. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken Sprünge machten und schon fast in Träume überglitten. Die Lider waren ihm schwer und sein Kopf sackte immer wieder zur Brust. Wach zu bleiben schien unmöglich und Schlaf doch so verlockend…

Rote Augen durchbohrten ihn. Sie schienen seine Seele zu ergründen und seine Gedanken zu verfolgen. Er stand nur da, unfähig sich zu bewegen. Um ihn herum war alles schwarz und er konnte nur die zwei roten Augen in einiger Entfernung ausmachen. Der zugehörige Körper lag in völliger Finsternis. Sie schienen näher zu kommen und sich dann doch wieder zu entfernen. Oder bewegte er sich etwa? Wie gefesselt hielt er den Blick auf die zwei glühenden Punkte gerichtet. Doch plötzlich waren sie verschwunden. Zwischen zwei Lidschlägen einfach weg. Jeglichem Anhaltspunkt entrissen, nahm die Beklemmung, die dieser Ort ausstrahlte noch mehr zu.
Er wollte sich umdrehen, seine Umgebung erkunden, doch es war ihm nicht möglich. Beklemmung steigerte sich in Furcht. Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Er konzentrierte sich auf seine anderen Sinne, versuchte ein Geräusch zu vernehmen oder einen Duft zu erhaschen. Doch es gelang ihm nicht. Wo waren die Bäume, das Feuer und der Junge?
Plötzlich fühlte er sich wieder beobachtet. Wie Dolche, die in seinen Rücken fuhren. Er wollte rufen, etwas sagen, Stärke demonstrieren. Doch wieder misslangen sämtliche seiner Versuche. Unwillkürlich schrak er innerlich zusammen. Keine Armeslänge vor ihm, trat eine Gestalt in sein Blickfeld. Das Gesicht war ihm bekannt. Schmale Gesichtszüge, die hart und unnachgiebig wirkten. Eine dünne Nase, die lang und habichtsgleich hervorstach. Die Lippen umspielte ein boshaftes und überlegenes Lächeln. Doch wie bereits zuvor, waren das Fremdartigste die rot glühenden Augen. In Form und Aussehen Katzenaugen ähnlich, hätte dies bereits Abscheu genug bei ihm bewirkt, doch glühten sie, wie aus einer inneren Kraft heraus. Genug sogar, ihm die restlichen Gesichtszüge zu offenbaren. Wieder hatte die fremde Gestalt wohl einen Mantel über, dessen Kapuze ihr tief ins Gesicht gezogen war. Der restliche Körper lag verborgen im Dunkel.
Er war irritiert, hatte er nicht genau dieses Wesen von seiner Klinge durchbohrt und anschließend zu Asche verbrennen sehen? Doch die Haut schien unversehrt. Kein Zeichen von Feuer oder anderer Hitzeeinwirkung. Sein Gegenüber schien diese Gedanken zu erraten. Das anmaßende Grinsen wurde breiter und wirkte nun noch herablassender.
„Ihr seht richtig. Erneut stehe ich vor euch. Ihr habt doch nicht ernsthaft geglaubt, euch meiner mit eurem kläglichen Angriff für alle Zeiten entledigt zu haben?“
Die Gestalt brach in schallendes Gelächter aus. Die Gefühle des Hauptmanns begannen sich erneut zu wandeln. Alle Furcht fiel von ihm ab, seine Beklemmung verflog. Er wollte nur noch seine Klinge aus der Scheide reißen und sie erneut, tief in der Brust dieses Dämons versenken.
Ein Schrei des Jubels hätte ihm entfahren können, als er spürte, wie es ihm gelang, seine Fingerspitzen leicht zu krümmen. Endlos langsam schien sich seine Hand der Starre zu entziehen.
„Eure Willenskraft ist bemerkenswert. Wonach dürstet euch? Etwa hiernach?“
Das Monster hielt des Hauptmanns Klinge vor sein Gesicht, während dessen Finger ins Leere tasteten. Mehr war ihm noch immer nicht vergönnt.
„Mir deucht, wir haben noch eine kleine Rechnung offen. Zuletzt hieltet ihr diesen Stahl in Händen und meine Brust war euch entblößt. Mir scheinen unsere Rollen dieses Mal vertauscht.“
Just in dem Moment, da er die Starre ganz überwand und sein Körper ihm wieder zu gehorchen schien, spürte er einen sengenden Schmerz in seiner Brust. Er hatte schon des Öfteren Stahl gekostet und kannte daher, dessen kalt brennenden Kuss. Er blickte an sich hinunter und sah schwach, im roten Licht der Augen, die Klinge bis zum Heft in seiner Brust. Sie musste ganz leicht eingedrungen sein, da er keinen nennenswerten Druck verspürt hatte. Sein Atem ging nur noch rasselnd und Blutgeschmack machte sich in seinem Mund breit. Er wusste, dass wie bei Elor seine Lunge getroffen war. Rasend schnell verließen ihn seine Kräfte. Sich nicht mehr länger auf den Beinen halten könnend, sank er auf seine Knie. Sein Gegenüber hatte das Schwert losgelassen und betrachtete ihn scheinbar mit allergrößtem Interesse. Noch immer spiegelte sich ein boshaftes Lächeln in dessen Gesicht.
„Ich denke, wir werden bei euch kein solch Feuerwerk zu sehen bekommen, wie es mir zu eigen ist.“
Das Monster und alles andere begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Der Hauptmann spürte, wie er ganz zu Boden sank und sich in warmen Schwällen Blut unter ihm verteilte. Der Boden war weich - als läge er auf Moos und gedämpftes Kinderplärren drang an sein Ohr…


Als die Schwärze verging, konnte er ein kleines Bündel neben sich liegen sehen. Eine Blutlache berührte fast die Decke des kleinen, weinenden Jungen. Unfähig sich zu bewegen, realisierte der Hauptmann, dass das Blut von ihm selbst zu kommen schien. Mit jedem schwerfälligen Atemzug, füllte sich sein Mund erneut mit Blut, das ihm aus seinem Mundwinkel rann. Der Schmerz in seiner Brust war kaum zu ertragen. Um letzten Atem ringend, glaubte er, zwei glühende Punkte zwischen den Bäumen ausmachen zu können. Sich seines Versagens bewusst, galten seine letzten Gedanken dem Jungen und dessen Mutter. Seine blutverschmierten Lippen formten ein stilles: „Es tut mir leid.“
Dann umfing den Hauptmann, zum letzten Mal in seinem Leben, erlösende Dunkelheit.

Die letzte Glut der Feuerstelle verströmte ihre Wärme, während die ersten Sonnenstrahlen einen klaren, blauen Himmel erhellten. Hoher Schnee bedeckte noch immer die Wipfel der Bäume ringsumher und unruhiges Pferdescharren war etwas abseits zu vernehmen. Das Kinderweinen neben dem leblosen Körper des braven Hauptmanns ließ langsam nach und verstummte schließlich ganz, während ein wunderschöner Wintermorgen anbrach.

Hier endet der Prolog. Am Samstag findet ihr den ersten Teil des 1. Kapitels. Lernt dort auch die weiteren Hauptfiguren meiner Geschichte kennen.

Freitag, 2. September 2011

Prolog Teil 4 - Wildnis

Kurze Zeit später befand sich der Hauptmann im Sattel eines Pferdes. Das Schneetreiben hatte zugenommen, sodass niemand im bloßen Vorbeigehen, das Bündel in seinem Arm bemerkt hätte. Noch immer schlummerte das Neugeborene an seiner Brust und die Straßen begannen sich nun zu füllen. Die ersten Händler und Bauern waren auf den Straßen, wahrscheinlich auf dem Weg zum Markt. Nur wenige waren wie er, in Richtung zu einem der vier Stadttore unterwegs. Stets den Blick umherschweifend, konnte er nichts beunruhigendes feststellen. Er war sich schon fast sicher, dass der Plan des alten Mannes aufgehen könnte, als er plötzlich ein rotes Blitzen hinter einer dunkelgrauen Kapuze sah.
Er hielt den Atem an. Während er sich näherte, kostete es ihn Überwindung, nicht auf das Bündel zu sehen, ob das Kind denn noch immer schliefe. Doch die Gestalt am Straßenrand wandte sich ab und ließ ihn scheinbar unbemerkt vorbei reiten.
Sie waren nur noch wenige Schritte vom Stadttor entfernt, doch als er gerade tief durchatmen wollte, begann das Kind sich zu regen. Angst stieg in ihm auf. Es war doch seit ihrer Flucht alles so glatt gelaufen.
‚Zu glatt!’, dachte er sich. Wie konnte er auch etwas anderes annehmen? Gedanklich sah er schon den Jungen, zu einem Schrei Luft holen, als er dem Pferd die Sporen gab. Keinen Moment zu früh, wie sich herausstellte.
Fast zeitgleich, wie der Kleine zu schreien begann, traten zwei weitere Gestalten in grauen Mänteln vor dem Tor auf die Straße. Sie mussten sich in einer Seitengasse aufgehalten haben. Ob Zufall oder nicht war einerlei. Einen nieder getrampelt, den anderen hinter sich lassend, galoppierte der Hauptmann, mit dem Kind auf dem Arm, hinaus in die Wildnis und den, in weiter Ferne befindlichen, schneebedeckten Wäldern entgegen.

Die Zeit verging. Er wusste nicht, wie lange er die Stadt schon hinter sich gelassen hatte. Der Himmel und die Sonne waren noch immer von Wolken bedeckt, sodass sich die Tageszeit nicht einmal erahnen ließ. Das Kind war bereits längst wieder zur Ruhe gekommen und das Schneetreiben hatte glücklicherweise etwas nachgelassen.
Nichtsdestotrotz schlich sich die Kälte durch seine Kleidung und unter die Haut. Nicht gerüstet für einen Aufenthalt in der Wildnis, war er doch davon ausgegangen, die Stadt nicht verlassen zu müssen. Er fürchtete das Schlimmste für den Kleinen und sich, wenn er nicht bald eine wärmere Bleibe fände.
Nur wusste er sehr wohl, dass es in dieser Richtung vor zwei Tagesreisen nichts Geeignetes zu erreichen gab.
Wieder hoffte er, trotz der frisch entstandenen Schneedecke, nicht allzu sehr vom eigentlichen Weg abgekommen zu sein. Doch der Schnee lag so hoch, dass die Wegsteine nur noch zu erahnen waren. Er wollte diesen Wald, so schnell es ging durchqueren. Ohne die Handelsstraße, war dieses Unterfangen jedoch, in ihrer Situation nicht zu empfehlen. Immer wieder vergewisserte er sich über den Zustand des Jungen. Trotz dass er das Neugeborene zusätzlich, in das untere Ende seines groben Mantels eingeschlagen hatte, waren dessen Lippen bereits bläulich verfärbt. Er war sich sicher, dass es ihm mit seinen eigenen nicht anders erging. Auch seine Finger waren bereits steif und schmerzten, doch er ritt weiter.

Der Wald lag nun ausgestreckt vor ihnen. Doch weder eine Schneise, noch irgendwelche Spuren waren zu entdecken. Auch schien das Tageslicht bereits nachzulassen. Hunger und Erschöpfung machten sich nicht erst seit eben in seinem Körper breit und das Kind hatte sich bereits mehrmals – wohl vor Hunger – in den Schlaf geschrien.
Der Hauptmann lenkte das Pferd durch den, nun kniehohen Schnee am Waldrand entlang und seine Hoffnung schwand. Er wusste, dass es nur eine richtige Straße durch diesen dichten Wald gab und durch das Schneetreiben waren sie zu sehr von deren Richtung abgeraten.
Rechts oder links? Die Chancen standen gleich. – Er entschied sich für links. Als nach geraumer Zeit noch immer keine Schneise erreicht war, begann er an seiner Entscheidung zu zweifeln. Doch umzukehren wäre wahrscheinlich ebenso fatal gewesen. Er ritt weiter. Als das Licht immer mehr abnahm und neuer Schneefall das Vorankommen noch mehr erschwerte, entschied er sich, Unterschlupf im Wald zu suchen. Unter allen Umständen musste er es vermeiden, beim Lagern in der Nacht vom Schnee eingeschlossen zu werden
Er wählte eine Stelle, die ein Eindringen mitsamt Pferd nicht unnötig erschwerte. Hier standen die Bäume etwas lichter und auch verschneite Büsche waren nicht ganz so häufig. Unter den hohen Zweigen der gewaltigen Bäume war der Boden hier sogar etwas freier.
Nachdem er sich vorsichtig herabgleiten gelassen hatte, führte er sein Tier am Zügel zu Fuß weiter. Seine Glieder schmerzten ihn und er hatte den Eindruck, jeden seiner Knochen einzeln zu spüren. Die Beine waren ihm vom langen Reiten in der Kälte steif und taub, sodass er zu Anfang strauchelte, als er wieder auf festem Boden stand.
Sie erreichten nicht weit eine mächtige Tanne, an deren Stamm der Boden so gut wie ganz vom Schnee verschont geblieben war. Hier legte er das Kind nieder. Nachdem er das Pferd ein wenig abseits angebunden hatte, begann er im letzten Tageslicht vereinzelte, trocken erscheinende Zweige und Äste zu sammeln und von den Bäumen zu schlagen.
Schließlich brach er mit Hilfe seines Dolchs ein Stück des Glühsteins, den er stets in einem Anhänger um den Hals trug, ab. Das abgeplatzte Stück würde sich schon bald erhitzen und so heiß werden, dass er hiermit zumindest ein paar Zweige zum Brennen bringen würde. Der Rest würde sich zeigen. Schnell legte er den Splitter auf das Holz und verschloss sorgfältig die kleine Dose. Er hatte bis heute nicht verstanden, warum sich der große Stein, im Inneren des Anhängers nicht auch zu erwärmen begann. Sei's drum.
Da kräuselte sich auch schon erster, leichter Rauch empor. Der kleine Steinsplitter begann rot zu glimmen und spritzte kleine Funken von sich. Plötzlich züngelte eine kleine Flamme auf und das Holz begann bald in der Hitze zu zischen und zu knacken.
Kurze Zeit später hatte er ein kleines Wunder geschaffen. In Gedanken gratulierte er sich immer wieder zur Anschaffung dieses - ein kleines Vermögen kostenden - Luxusgegenstandes.

Der letzte Teil des Prologs folgt am Mittwoch.